3. August 2012
Zoe, 2, starb praktisch unter den Augen des Jugendamtes. Gegen eine
Hilfsorganisation wird wegen Betrugsverdachts ermittelt. Der Fall
erzählt von einer Branche, die mit Steuergeld hohe Umsätze macht. Von Hans-Martin Tillack
In diesem Haus in Berlin-Weißensee wurde das kleine Mädchen Zoe tot aufgefunden© Jörg Carstensen/DPA
Wuschelhaare,
Jeans, das Hemd über der Hose – Andreas Spohn gibt sich gerne locker,
wenn er Besucher in seiner Unternehmenszentrale im Berliner Bezirk
Prenzlauer Berg empfängt. Nein, er strebe nicht nach Reichtum,
versichert der 53-jährige. Was ihn treibe, sei Idealismus.
Spohn ist der Vorsitzende des
Trägerverbundes "Independent Living" (IL). Der ist seit Januar in der
Kritik und das nicht zum ersten Mal. Zwei Mitarbeiterinnen hatten im
Auftrag des Jugendamtes Berlin-Pankow die Mutter der zweieinhalbjährigen Zoe betreut. Das kleine Mädchen starb an einer Bauchfellentzündung, Folge eines Darmrisses durch Gewalteinwirkung.
Noch
am Tag vor Zoes Tod, als das Kleinkind schon um sein Leben kämpfte,
waren zwei Familienhelferinnen von "Independent Living" zu einem
ausführlichen Gespräch in der Wohnung. Sie sahen, dass es dem Kind
schlecht ging, aber glaubten der Mutter, dass sie zum Arzt gehen würde,
obwohl sie viele Male zuvor diese Versprechungen nicht gehalten hatte.
Der Geschäftsführer von "Independent Living" in Pankow spricht von einem
"sehr bedauerlichen, tragischen Fall". Auch das Jugendamt verteidigt
den Träger; dem sei nichts vorzuwerfen.
Steuergelder trotz Vorwürfe
Inzwischen ermittelt nach Informationen des stern
die Berliner Staatsanwaltschaft im Fall Zoe gegen IL-Mitarbeiter – wenn
auch nicht wegen des Kindstodes, sondern wegen des Verdachts auf
Betrug. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf eine wenig bekannte Branche,
die mit Steuergeld jedes Jahr hohe Umsätze macht. Mehr als 400 Millionen
Euro pro Jahr reicht allein das Land Berlin für Hilfen zur Erziehung an
rund 780 freie Träger weiter. "Independent Living" ist einer der Profiteure.
Mitgründer
Andreas Spohn war vor dem Mauerfall kurzzeitig Offiziersschüler der
Nationalen Volksarmee der DDR, dann Diplom-Erzieher und Streetworker,
schließlich hat er zusammen mit Partnern in den vergangenen 20 Jahren
einen der größten Sozialkonzerne der Region aufgebaut. Die in dem von
ihm geführten Trägerverbund organisierten gemeinnützigen Vereine und
Gesellschaften erwirtschafteten im Jahr 2010 mit um die 700
Beschäftigten einen Umsatz von rund 35 Millionen Euro. Spohns Reich
erstreckt sich über Berlin, Brandenburg und zwei weitere Bundesländer.
"Independent Living" bietet Familienhilfe, betreibt Wohngemeinschaften
für vom Jugendamt betreute Heranwachsende, führt Kitas, ein Kinder- und
Jugendtelefon sowie Jugendclubs. Und obwohl es gegen den Verbund immer
wieder Vorwürfe gab, fließen die Steuergelder weiter.
Allein
der IL-Verein in Pankow, der Zoe betreut hatte, verzeichnete im Jahr
2010 Umsatzerlöse von an die 1,7 Millionen Euro. Wieviel davon das
örtliche Jugendamt bezahlt hat, ist selbst dessen Leiterin Judith
Pfennig nach ihren eigenen Angaben unbekannt. Das sei für sie "nicht
relevant". Es könnten aber gut einige hunderttausend Euro sein, räumt
sie ein.
Fiktion der Selbstlosigkeit
Normalerweise
müssen öffentliche Behörden Dienstleistungen ab einem Schwellenbetrag
von 200.000 Euro europaweit ausschreiben. Für Sozialleistungen, wie sie
Spohns Gesellschaften anbieten, gilt das nicht. Hier waltet die Fiktion
vom selbstlosen gemeinnützigen Helferverein.
Diese
Prämisse gilt zumindest für Spohns Sozialvereine: Als gemeinnützige
Einrichtungen dürfen sie keinen Profit für die Eigentümer
erwirtschaften, sondern sie müssen "selbstlos" tätig sein. Daher sind
sie auch von bestimmten Steuern befreit.
Doch das
edle Prinzip der Selbstlosigkeit gilt nicht für alle Aktivitäten, an
denen Spohn beteiligt ist. Daneben hat der umtriebige Brandenburger über
die Jahre zusammen mit einem Geschäftspartner ein zweites
Firmenimperium aufgebaut, den UCR Serviceverbund.
Dessen vielfach untereinander verflochtene Unternehmen arbeiten weder
gemeinnützig, noch selbstlos. Doch sie leben weitgehend von den
Aufträgen der gemeinnützigen IL-Gesellschaften, machen für sie
Buchhaltung, Computeradministration, PR, Webdesign, Hausmeisterdienste
und vieles mehr. An neun dieser Gesellschaften ist Spohn – Stand Juni
2012 – persönlich indirekt als Gesellschafter beteiligt. Er präsentiert
sich also als Wohltäter, kann aber am Ende selber Gewinne abschöpfen.
Was er aber nicht tue, wie er versichert.
Vernetzung mit Politik
Am
Briefkasten des zentralen Berliner Firmensitzes, den sich Independent
Living und UCR in Bürogemeinschaft teilen, stehen die Namen von 31
Vereinen und Gesellschaften. Spohns Vereine sind darauf angewiesen, dass
die Behörden immer wieder Aufträge und Fälle vergeben. Im
Geschäftsbericht eines IL-Kinderheims war vor einigen Jahren offen die
Rede von Problemen mit einem "Belegungsrückgang". Zwecks besserer
"Auslastung" der Wohngruppen habe man eine "Verbesserung der
Zusammenarbeit mit den Jugendämtern" suchen müssen.
Bei
einem Berliner IL-Verein amtiert bis heute eine Frau als
Vizevorsitzende, die gleichzeitig lange Jahre im Jugendamt Berlin-Mitte
arbeitete. Das Amt versichert, dass die Mitarbeiterin "zu keinem
Zeitpunkt" Leistungen der Hilfe zur Erziehung an Träger zu vermitteln
gehabt habe. Überdies habe sie "nach der Veröffentlichung von Vorwürfen
gegenüber dem Träger" in schriftlicher Form "das Ruhen" ihrer
Vereinstätigkeit erklärt. Doch im Vereinsregister blieb die
Sozialarbeiterin unverändert als Vizechefin aufgeführt. "Natürlich kann
man das als Problem sehen", räumt Spohn heute ein. Jede Art von
Vetternwirtschaft lehne er aber ab.
Es muss kein Schaden für ihn sein, dass Wohlfahrtsunternehmer Spohn selbst politisch gut vernetzt ist. In Frankfurt (Oder) führt er seit vier Jahren die SPD-Fraktion im Stadtparlament.
Eine Spohn-Gesellschaft in der Oder-Stadt reklamierte gar nicht erst -
wie sonst oft bei ähnlichen Vereinen üblich - parteipolitische
Unabhängigkeit für sich. Sie brüstete sich jahrelang damit, "eng" mit
der örtlichen SPD zusammen zu arbeiten - sowie mit einem damaligen
Landtagsabgeordneten der PDS.
Verdi kritisiert willkürliche Kündigungen
Vorwürfe
über eine angebliche "SPD-Mafia" wischt Spohn trotzdem genauso vom
Tisch, wie die Kritik ehemaliger Angestellter. Die hatten schon vor zwei
Jahren zusammen mit der Gewerkschaft Verdi gegen die Arbeitsbedingungen
bei "Independent Living" protestiert. Die Sozialarbeiter beschwerten
sich über unwürdige Verträge. Sie bekämen nur geringe Stundenzahlen
garantiert, müssten sich aber bereit halten, falls Fälle akquiriert
würden. Verdi beklagte willkürliche Kündigungen und in der Tat unterlag
"Independent Living" wiederholt vor dem Arbeitsgericht.
Dennoch konnte Spohn die Kritik bis heute wenig anhaben. Im einflussreichen Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV),
der viele freie Träger vertritt, führte er zeitweilig sogar den
Brandenburger Landesverband. Dort ist er heute noch erster
stellvertretender Verbandsratschef. Kein Wunder, dass sich "Independent
Living" an den DPWV wandte, als vor zwei Jahren öffentliche Kritik an
dem merkwürdigen Geflecht von Firmen und Vereinen laut wurde.
Persilschein der Prüfungskommission
Wie
von Spohn erbeten, überprüften darauf die DPWV-Verbände von Berlin und
Brandenburg das IL-Vereinsreich. Mitglied der vierköpfigen
Prüfkommission war auch eine Managerin des Wohlfartsverbands, die unter
Spohns Führung ihren Job bekommen hatte. Das Ergebnis der Prüfkommission
kam einem Persilschein gleich. Das verzweigte Vereinsgeflecht sei "mit
Sicherheit nicht" geschaffen worden, "um Intransparenz zu erzeugen und
damit die Fantasien verschiedener Medienvertreter anzuregen",
bescheinigten die Prüfer ihrem Verbandskollegen, "sondern um sich
kaufmännisch adäquat zu verhalten".
"Keinerlei
Beanstandungen" wollten die Prüfer auch daran formulieren, dass die
Independent-Living-Vereine "Dienstleistungen zu einem großen Teil an
Gesellschaften des UCR-Bereichs vergeben". Der Vereinsverbund habe ja
versichert, dass bei der Auftragsvergabe stets Kostenvergleiche
einzuholen seien.
Die Berliner Senatsverwaltung zieht
diesen entlastenden Bericht bis heute zur Verteidigung des Trägers
heran. Dabei hält man im Nachhinein selbst beim Paritätische
Wohlfahrtsverband die Verquickung von Prüfern und zu Prüfenden für
"nicht so klug". Man würde das nicht noch mal so machen.
Mitarbeit: Frauke Hunfeld
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