01.07.2012
Von Christian Wölfel (KNA) München (KNA)
"Wenn wir reden, haben
die keine Macht über uns." Es ist das Jahr 2008, Luisa (Senta Berger)
ist in Berlin. Nach über 40 Jahren ist sie aus den USA in ihre alte
Heimat zurückgekehrt, um vor dem Petitionsausschuss des Deutschen
Bundestages, am runden Tisch, über ihre Erfahrungen im Diakonischen
Erziehungsheim Falkenstein zu berichten. Paul (Matthias Habich) ist noch
nicht so weit. Aus Angst vor der Demütigung hat die Jugendliebe von
Luisa die Zeit verdrängt: "Wir waren keine Kinder, nie."
Es ist eine
bedrückende Premiere, die das Publikum des Münchner Filmfests am
Wochenende erlebt. In einer Art Parallelmontage springt der Film "Und
alle haben geschwiegen" von Produzentin Doris Zander und Regisseur Dror
Zahavi zwischen Luisas und Pauls Jugend im Erziehungsheim sowie der
Aufarbeitung im Jahr 2008 hin und her. Luisa (Alicia von Rittberg), mit
hervorragenden Noten in der Schule, ist ein uneheliches Kind. Als die
Mutter krank wird, schickt das Jugendamt die 17-Jährige ins Heim.
"Klingt das Wort Heim denn so schrecklich?", fragt die Mitarbeiterin des
Jugendamts Luisas Mutter. Die Antwort darauf zeigt der Film: Luisa, ab
sofort "Nummer 84", muss die Schule gegen die Wäscherei im Heim
eintauschen - ein nützliches Mitglied der Gesellschaft soll sie werden.
Schonungslos zeigt der Film Gewalt "im Namen des Herrn". Der Satz des
Kirchenvertreters am runden Tisch, es habe sicherlich "auch mal eine
Ohrfeige" gegeben, wirkt wie Hohn. Als Luisa gegen die Schwestern
aufbegehrt, wird sie körperlich schwer misshandelt, es fließt viel Blut.
Paul (Leonhard Carow) muss es dann saubermachen.
Auch der stotternde
Junge spürt Gewalt. Im Speisesaal muss er das "Vater unser" laut
vorbeten, für jeden sprachlichen Aussetzer gibt es mit dem Rohrstock
Schläge auf die Handrücken. In nur wenigen Momenten der Zweisamkeit
schaffen es die beiden, die Grausamkeiten des Heimalltags zu vergessen.
"Sie können schlimme Sachen mit uns machen, aber die können nicht in
unser Herz, da können sie nicht rein", sagt Paul. Nach einem
dramatischen Zwischenfall kommt Luisa ins Krankenhaus. Sie kehrt in das
Heim nie wieder zurück, gründet später eine Familie in den USA. Paul
sieht sie bis zum Jahr 2008 nicht wieder. "Es ist ein
Durchschnitts-Schicksal, es gab schlimmere und weniger schlimme", sagt
Peter Wensierski. Das Drehbuch von Andrea Stoll basiert auf dem
Sachbuch-Bestseller "Schläge im Namen des Herrn" des
"Spiegel"-Redakteurs.
Wensierski hat sich als einer der ersten mit dem
Schicksal der Heimkinder im Nachkriegsdeutschland beschäftigt und eine
bundesweite Debatte ausgelöst. Es folgten ein Petitionsausschuss des
Bundestages und ein "runder Tisch". Wensierski erhielt für seine Arbeit
das Bundesverdienstkreuz. Nach wissenschaftlichen Studien gab es in den
1950er und 1960er Jahren rund 800.000 Heimkinder in Westdeutschland.
Immer wieder mussten sie drakonische Strafen sowie Demütigungen und
Misshandlungen bis zu sexuellem Missbrauch erdulden.
Für ehemalige
Heimkinder in Westdeutschland wurde mittlerweile ein mit 120 Millionen
Euro ausgestatteter Entschädigungsfonds eingerichtet, an dem sich die
beiden großen Kirchen beteiligen. Für DDR-Heimkinder soll es einen mit
40 Millionen Euro geben. Außerdem haben die katholischen Bischöfe
angeregt, auch Behindertenheime einzubeziehen. Das fiktionale Werk der
Produktionsfirma Aspekt Telefilm Berlin im Auftrag des ZDF ist
hoch-emotional und gleichzeitig ein Stück publikumswirksamer
Aufarbeitung eines dunklen Kapitels deutscher Geschichte. "Gewalt
beginnt, wo das Reden aufhört." Der alte Paul zitiert die Philosophin
Hannah Arendt, als er dann auch aussagt. Auch wenn der Spielfilm keine
neuen Fakten enthält, wird er erneut für Gesprächsstoff sorgen. Anfang
nächsten Jahres will das ZDF ihn montags um 20.15 Uhr senden. Der genaue
Termin steht noch nicht fest. chw/cri/twi/
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