Im “Spiegel” Nr.
31 vom 31. 07. 2012 ist ein hochinteressantes Interview mit dem
renommierten Harvard-Entwicklungspsychologen Jerome Kagan abgedruckt,
der Platz 22 der bedeutendsten Psychologen des 20. Jahrhunderts
einnimmt.
Kagan tritt mit deutlichen Erkenntnissen und – in besagtem
Interview – Antworten am Beispiel der USA die Beweisführung an, wie
gewissenlos die Zunft der Psychotherapeuten in weiten Teilen mit
unreflektierten Diagnosen und Psychopharmaka-Verschreibungen das Wohl
Abertausender Kinder riskiert. Im Folgenden ein Auszug aus dem
Interview:
“… Spiegel: In den sechziger Jahren waren
psychische Störungen bei Kindern nahezu unbekannt. Heute ist offiziellen
Angaben zufolge jedes achte Kind in den USA psychisch krank.
Kagan: Richtig, aber das liegt vor allem an der
schwammigen Diagnosepraktik. Lassen sie uns fünfzig Jahre zurückgehen
und einen siebenjährigen Jungen anschauen, der sich in der Schule
langweilt und den Unterricht stört. Heute sagt man, er leide an ADHS.
Deshalb sind die Zahlen so hochgeschnellt.
Spiegel: Experten sprechen davon, dass 5,4
Millionen Kinder, die für das Zappelphillip-Syndrom ADHS typischen
Symptome zeigen. Und sie wollen uns sagen, dass es sich bei dieser
psychischen Krankheit um nur eine Erfindung handelt?
Kagan: Korrekt, sie ist eine Erfindung. Jedes
Kind, das schlecht in der Schule ist, wird heutzutage zum Kinderarzt
geschickt, und der sagt: Es ist ADHS, und hier ist Ritalin. Dabei haben
90 Prozent dieser 5,4 Millionen Kinder gar keinen gestörten
Dopamin-Stoffwechsel. Das Problem ist: Wenn Ärzte ein Medikament zur
Verfügung haben, stellen sie auch die entsprechende Diagnose.
Spiegel: Die angebliche Gesundheitskrise der Kinder – nur ein Schreckgespenst?
Kagan: Wir können nur philosophisch werden und
fragen: Was ist eine psychische Erkrankung? Wenn man Kinder und
Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren interviewt, lassen sich bis zu 40
Prozent als ängstlich oder depressiv einstufen. Aber wenn man genauer
hinschaut und fragt, wie viele in ihrem Leben davon ernsthaft
beeinträchtigt sind, schrumpft die Zahl auf 8 Prozent. Es ist
lächerlich, jedes Kind, das niedergedrückt und ängstlich wirkt, gleich
als psychisch krank zu bezeichnen. Jugendliche sind ängstlich, das ist
normal. Sie wissen nicht, auf welches College sie gehen sollen. Ihr
Freund oder ihre Freundin hat sie gerade verlassen. Traurigkeit und
Angst gehören genauso zum Leben wie Wut oder sexuelle Frustration.
Spiegel: Was bedeutet es, wenn Millionen amerikanischer Kinder fälschlich für psychisch krank erklärt werden?
Kagan: Nun, es bedeutet vor allem mehr Geld für die Pharmaindustrie und mehr Geld für Psychiater und Forscher. …”
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