Die Leiterin der Berliner Beratungsstelle wirft den Job hin und beklagt mangelhafte Ausstattung und Vorgaben. Beratungsstellen in anderen Bundesländern teilen ihre Kritik an zu viel Bürokratie.
Ausgerechnet Daniela Gerstner ist als Erster der Kragen geplatzt. Die Leiterin der erst im Januar eröffneten Berliner Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder hat Ende März ihren Posten geräumt. Dabei war gerade Gerstner von vielen Seiten gelobt worden. Für ihren steten persönlichen Einsatz. Und für die insgesamt gute Arbeit der Beratungsstelle.
Doch sie selbst sah sich in letzter Zeit offenbar auf verlorenem Posten und hat nun in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst schwere Vorwürfe gegen die Politik erhoben.
Die Sozialpädagogin und Traumafachberaterin kritisierte, dass die Fondslösung für die Hilfsleistungen nicht nur schlecht vorbereitet, sondern auch noch schlecht umgesetzt sei. „Ich halte es für unverantwortlich, bei den Betroffenen Hoffnungen zu wecken und sie dann nicht zu erfüllen“, bilanzierte Gerstner.
"Dass es nicht gut läuft, ist ein offenes Geheimnis"
Seit diesem Jahr können Menschen, die als Kinder in Heimen in Westdeutschland missbraucht wurden, Anträge auf finanzielle Hilfen stellen. In jedem Bundesland wurden dafür Beratungsstellen eingerichtet. Der Fonds für Hilfeleistungen ist mit insgesamt 120 Millionen Euro gefüllt, die von Bund, Ländern und Kirchen fließen sollen. Ein ähnliches Konzept soll bald für ehemalige Ost-Heimkinder gelten.
Die Berlinerin hat mit ihrem Rundumschlag ausgesprochen, was viele denken. Hört man sich allerdings in Beratungsstellen um, erhält man meist nur hinter vorgehaltener Hand Antworten. „Was Frau Gerstner gesagt habe, sei sehr mutig und im Großen und Ganzen nachvollziehbar“, heißt es.
Oder: „Dass es insgesamt nicht besonders gut läuft, ist ein offenes Geheimnis.“ Bisher sei alles viel zu bürokratisch.
Ein Grund, warum Gerstners Schritt jedoch nicht breit öffentlich unterstützt wird, hängt wohl mit der Berliner Sonderstellung zusammen. Da es in der Hauptstadt bereits seit längerem der politische Wunsch war, eine solche Beratungsstelle einzurichten, ist die Organisation in Berlin ein Einzelfall: Nur hier wird die Beratungsstelle in freier Trägerschaft geführt.
In den anderen Bundesländern liegt sie meist in Hand der Behörden – und für den Fonds ist letztendlich das Bundesfamilienministerium zuständig.
"Die Beratungspraxis ist eine Katastrophe"
Gerstner berichtet, dass es bislang noch nicht einmal richtige Antragsformulare gebe. Die Beratungsstellen seien weder personell und räumlich, noch von den Fondslösungen und von der Qualifikation der Mitarbeiter hinreichend auf ihre Aufgabe vorbereitet. Aufgrund des Verzichts auf eine Änderung des Sozialgesetzbuches sei zudem nicht eindeutig geregelt worden, dass Leistungen aus dem Fonds nicht wieder von etwaig bezogener Sozialhilfe abgezogen werden.
Dirk Friedrich, Vizevorsitzender des Vereins ehemaliger Heimkinder (VEH), unterstützt die umfassende Kritik an der Umsetzung: „Diese höre ich von überall aus dem Land. Die Beratungspraxis ist leider eine Katastrophe“, sagte Friedrich "Welt Online".
Das Recht auf Entschädigungen geht auf eine Initiative ehemaliger Heimkinder aus dem Jahr 2006 zurück. Der VEH lehnte den nun aufgelegten Fonds allerdings ab, weil er keine Entschädigung darstelle, sondern die Gelder zum Beispiel auf andere Leistungen angerechnet werden könnten oder für Sachleistungen oder Therapien genutzt würden. „Wir fordern weiterhin eine Rente oder eine Einmalzahlung für die Opfer“, erklärte Friedrich.
Enttäuschung ist "fachlich nicht legitimiert"
Er bedauert, dass es ausgerechnet Gerstner ist, die nun die Beratung verlässt: „Ich hatte aber schon vorher die Sorge, dass jemand, der sich so engagiert, sich aufreiben könnte.“
Friedrich hält bei der Umsetzung der Fondslösung für bedenklich, dass nur in Berlin die Beratungsstelle in freier Trägerschaft liegt – schließlich seien einst oft dieselben amtlichen Stellen für das Leid verantwortlich gewesen: „Viele ehemalige Heimkinder haben erst gar nicht den Mut, zu den Beratungsstellen zu gehen, weil es für sie einer Retraumatisierung gleichkommt, wenn sie sich dort seelisch ausziehen und sich als Bittsteller fühlen müssen.“
Der Andrang ist dennoch fast überall hoch. Allein in Berlin haben sich in den ersten drei Monaten des Jahres bereits 250 Betroffene gemeldet. So muss nun verwaltet werden, was viele eigentlich gar nicht erst wollten.
Und hier liegt dann auch die Kritik, die vom Träger der Berliner Beratungsstelle, der Gesellschaft für sozial-kulturelle Arbeit, an der Entscheidung von Gerstner laut wird. Natürlich sei die Frustration über die unklaren Rahmenbedingungen nachvollziehbar. Allerdings habe die Sozialpädagogin das bereits im Vorfeld wissen müssen. Gerstners Enttäuschung sei „fachlich nicht legitimiert“.
Von Manuel Bewarder
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