WISSENSCHAFT
Nach einer Scheidung werden Therapeuten und Ärzte oft in die Sorgerechtsstreitigkeiten verwickelt. Wichtig ist, zwischen verschiedenen Konfliktkonstellationen unterscheiden zu können.
Vor dem Hintergrund steigender Scheidungszahlen und Auseinandersetzungen um das Sorge- und Umgangsrecht mit den gemeinsamen Kindern mehren sich Fälle, in denen Eltern versuchen, ein Kind dem anderen Elternteil zu entfremden und diesen von Umgang und Erziehung auszugrenzen. Nicht nur Rechtsanwälte, Richter, Sachverständige und Mitarbeiter von Jugendämtern werden in die oft unerbittlich geführten Auseinandersetzungen einbezogen, sondern auch Psychotherapeuten, (Kinder-)Ärzte und Kinderpsychiater: Meist wünscht ein Elternteil Atteste und Bescheinigungen darüber, dass Verhaltensauffälligkeiten oder funktionelle Symptome (Einnässen, oppositionelles Verhalten, Depressionen, Schlafstörungen und anderes) eines Kindes auf negative Einwirkungen des anderen Elternteils zurückzuführen seien und/oder der Kontakt abgebrochen werden sollte (1, 2).
Missbrauch von
Attesten verhindern
Das Thema entzündet sich zumeist zu einem Zeitpunkt, an dem Trennungskonflikte in Sorgerechts- oder Umgangsstreitigkeiten übergehen und ein Elternteil den anderen von der künftigen Erziehung ausgrenzen will. Zugespitzt wird die Situation, wenn sich dabei zwei „Lager“ gegenüberstehen (3), zum Beispiel ein Vater mit den Großeltern, bei denen sich das Kind bei Besuchskontakten aufhält, und eine Mutter mit neuem Ehepartner. Für Ärzte und Therapeuten ist es hilfreich, zwischen verschiedenen Konfliktkonstellationen zu unterscheiden, um Eltern einerseits aufzuklären, und andererseits den Missbrauch von Attesten zu verhindern.
Die mit den eigenen Belastungen infolge der Trennung beschäftigten Eltern nehmen die psychische Belastung der Kinder oft weder wahr, noch geben sie ihnen genügend Zuwendung. Daher werden die natürlichen Stress-Symptome der Kinder bei weiteren Konflikten zwischen den Eltern oftmals umgedeutet, Resultat einer negativen Beeinflussung oder „Überforderung“ durch den Umgang mit dem anderen Elternteil zu sein. Tatsächlich werden psychische und funktionelle Reaktionen, Infekte, aggressive oder depressive Reaktionen nicht nur durch die Trennung selbst ausgelöst. Sie entstehen besonders dann, wenn das Kind von einem Elternteil zum anderen wechseln soll, der betreuende Elternteil diesen Umgang jedoch ablehnt, beispielsweise mit der Begründung, das Kind müsse „zur Ruhe kommen“, oder es wolle nicht zum anderen Elternteil (5, 6).
Nach den Erfahrungen von Felder und Hausheer (7) zeigen sich Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter vor Besuchen beim anderen Elternteil oft fahrig, gereizt und unwillig, oder sie klagen über Bauchschmerzen. Die Besuchszeit selbst verläuft nach kurzer Eingewöhnung ohne Konflikte und in freudiger Atmosphäre. Das Kind will jedoch von Zuhause nichts erzählen und dort auch nicht anrufen. Das Kind kehrt weinerlich und widerstrebend zum betreuenden Elternteil zurück. Nach den Besuchen verhält es sich einige Tage lang überdreht, verschlossen oder mürrisch, will von den Besuchen selbst nichts erzählen, bis es schließlich wieder „normal“ wird. Die Eltern ziehen aus diesem Muster entgegengesetzte Schlüsse: Die Mutter (gegebenenfalls der Vater) sieht keinen Sinn in den Besuchen, sondern eher Schaden. Das Kind werde gequält, nur um den Rechtsanspruch des Besuchsvaters (gegebenenfalls -mutter) zu erfüllen, die Besuche sollten deshalb beendet werden. Der Vater fragt sich dagegen, ob das Kind bei der Mutter gut aufgehoben ist, da es in so bemitleidenswertem Zustand zu ihm kommt und ungern wieder zur Mutter zurückkehrt.
Diesem „Besuchsrechtssyndrom“ liegen im Gegensatz zu einem Entfremdungssyndrom keine Entfremdungsabsichten zugrunde. Die Ursachen können in Trennungsängsten, psychodynamischen Loyalitätskonflikten, einem Autonomieproblem, fehlender Objektkonstanz beim Kind, auf Elternebene in Kränkungen, sozialer Isolation oder in Problemen mit einem neuen Partner liegen. Die Eltern äußern Besorgtheit angesichts der Symptome. Sie tendieren zunächst nicht dazu, den anderen Elternteil abzuwerten, ihn für die Symptome verantwortlich zu machen oder ausgrenzen zu wollen. In diesen Fällen genügt es, im Rahmen der Anamneseerhebung darauf hinzuweisen, dass es sich um natürliche Reaktionen des Kindes handelt, die nach etwa einem halben bis einem Jahr von selbst nachlassen, wenn das Kind erfahren hat, dass ihm bei den Besuchskontakten weder Mutter noch Vater verloren gehen.
Loyalitätskonflikt für das Kind
Das von Gardner (8) beschriebene Parental Alienation Syndrome (PAS) hebt sich von dem Besuchsrechtssyndrom und von Fällen ab, in denen ein Kind Misshandlungen oder Vernachlässigungen erfahren hat und deshalb kontaktunwillig ist.
PAS entwickelt sich nur dann, wenn ein Kind – bewusst oder unbewusst – vom betreuenden Elternteil in einen starken Loyalitätskonflikt getrieben, der Umgang mit dem anderen Elternteil massiv erschwert wird und das Kind durch seinen Wunsch, den Kontakt zu behalten, Schuldgefühle entwickelt. Bei den betreuenden Eltern liegt häufig eine durch den Trennungsprozess aktivierte Borderline-Problematik zugrunde (3): Sie fühlen sich durch den erhöhten Stress der Nachtrennungssituation (9) überfordert und reglementieren das Kind verstärkt. Es gerät oft in die Rolle eines Partnerersatzes, und es entwickelt sich eine symbiotische Beziehung. Jeder Kontakt des Kindes zum anderen Elternteil löst panikartige Verlustängste aus. Häufig werden Besuchstermine abgesagt. Dem Kind wird durch viele Entfremdungsstrategien (8, 10) ein negatives Bild des anderen Elternteils vermittelt – ein intensiver Loyalitätskonflikt wird gefördert. Im Gegensatz zum Besuchsrechtssyndrom zeigen sich beim PAS mehrere, einfach erkennbare Symptome im Verhalten des Kindes:
- Es werden Meinungen und wörtliche Formulierungen vom betreuenden Elternteil übernommen, die dessen Haltung zum anderen charakterisieren. Das Gesagte wird in nicht kindgerechter Sprache („Er hat einen Machtkomplex.“) und gekünstelter Stimmlage vorgebracht. Es werden neue Ablehnungsgründe „hinzuerfunden“, das Kind wirkt beim Gespräch motorisch unruhig und gespannt.
- Nicht nur der andere Elternteil, sondern dessen gesamtes soziales und familiäres Umfeld wird in die Ablehnung miteinbezogen, zum Beispiel früher geliebte Großeltern und Freunde.
- Das Kind „spaltet“: Der betreuende Elternteil ist nur „gut“, der andere nur „schlecht“, die natürliche Ambivalenz fehlt. Das Kind ergreift reflexhaft für den Betreuer Partei.
- Das Kind betont auffällig, dass alles, was es sage, sein eigener Wille sei („Ich will das.“).
Wenn der Entfremdungsprozess fortgeschritten und sich der betreuende Elternteil sicher ist, dass das Kind keinen Wunsch nach Kontakt zum anderen mehr äußert, betont er oft: „Ich wäre der/die Letzte, die etwas gegen Besuche hat, aber das Kind will nicht.“
Ein weiteres Indiz für ein Entfremdungssyndrom ist, dass der betreuende Elternteil den anderen abwertet und den Gesprächspartner in eine Allianz gegen diesen einzubinden versucht. Gleichzeitig werden Diskurs und Vermittlungsbemühungen, die seine Person und Rolle im Trennungsprozess betreffen, jedoch ablehnt.
Mitagieren vermeiden
Es besteht die Chance, den Eltern eine stützende Therapie/Beratung oder Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe zu empfehlen. Die Selbstdarstellung von PAS-Eltern als „bedauernswertes Opfer“ verführt leicht zum Mitagieren und Helferimpulsen. Die Ausgrenzungslösung wird aber dadurch vom Arzt/Therapeuten zusätzlich unterstützt. Hingegen sollte den Eltern vergegenwärtigt werden, dass:
- das Kind zum anderen Elternteil früher ein gutes und liebevolles Verhältnis hatte;
- der entfremdende Elternteil tatsächlich Unterstützung und Zuwendung benötigt, diese jedoch nicht darin bestehen kann, Ausgrenzungsbestrebungen zu unterstützen;
- es sich bei den Anschuldigungen des betreuenden Elternteils zumeist um Projektionen handelt.
Wenn aktiv entfremdendes Verhalten mit der Folge eines PAS beim Kind auffällt, muss den betreuenden Eltern einerseits das Destruktive und Unmoralische ihres Handelns vor Augen geführt werden, andererseits aber auch ihre emotionale Bedürftigkeit angenommen werden. Mit dem für Borderline-Therapien wichtigen ausgewogenen Verhältnis von Konfrontation und Empathie lassen sich entfremdende Eltern am ehesten erreichen.
Die Kinder benötigen keine Therapie. Das Verhalten normalisiert sich schnell, wenn das Kind erfährt, dass es den anderen Elternteil verlässlich und ohne Schuldgefühle besuchen und sich an der gemeinsamen Zeit erfreuen darf.
Die Angaben in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das im Internet unter www.aerz teblatt.de/pp/lit0203 abrufbar ist.
Dr. phil. Walter Andritzky, Kopernikusstraße 55, 40225 Düsseldorf
http://www.aerzteblatt.de/archiv/35550/Parental-Alienation-Syndrome-Nicht-instrumentalisieren-lassen
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