Von Peter Praschl
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Im vergangenen Jahr
wurde Andreas Huckele mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet.
Wenn man weiß, was ihm widerfahren ist, wünscht man sich, das wäre ihm
erspart geblieben: Denn die Auszeichnung für sein "seltenes Beispiel von
Mut" galt einem Buch, in dem Huckele – noch unter dem Pseudonym Jürgen
Dehmers – detailliert von dem sexuellen Missbrauch erzählte, der ihm und
anderen an der Odenwaldschule angetan wurde.
Jahrzehntelang
hatten sich an einem Ort, der als ein Leuchtfeuer der Reformpädagogik
galt, Lehrer und Erzieher über ihnen anvertraute Schüler hergemacht, sie
bedrängt, befummelt, belästigt, begrapscht, behechelt, belästigt und
vergewaltigt. Und all die Zeit über wusste man an jenem Ort, dass
dergleichen geschah.
Es gab Gerüchte,
Symptome, Signale und Zusammenbrüche. Sie wurden heruntergespielt,
übersehen und verdrängt. Bis Huckele, der immer wieder mit wenig Erfolg
versucht hatte, seine Erfahrungen öffentlich zu machen, 2010 endlich so
viel Gehör bei den Medien fand, dass sich der Skandal einfach nicht mehr
länger vertuschen oder aussitzen ließ.
Im Odenwald geht der Betrieb weiter
Die
Odenwaldschule gibt es immer noch, man weiß nicht so genau, aus welchen
Gründen Eltern ihre Kinder in ein Internat schicken, von dem sie wissen,
dass sie in Betten schlafen oder in Räumen duschen müssen, in denen
anderen Kindern Gewalt angetan wurde. Aber vielleicht ist auch das ein
Symptom: sowohl für die mangelnde Entschiedenheit, etwas Systematisches
gegen den sexuellen Missbrauch an Kindern in pädagogischen Institutionen
zu unternehmen, als auch für das Fortleben der Illusion, es handle sich
immer nur um beklagenswerte Einzelfälle. Mittlerweile sind so viele
bekannt geworden, nicht nur an der Odenwaldschule, dass man von einer
Epidemie von Einzelfällen sprechen müsste.
In seiner
Streitschrift "Macht, Sexualität, Gewalt", die gerade als E-Book
erschienen ist, unternimmt es Huckele ein weiteres Mal, uns die
Beruhigungsmittel zu nehmen, mit denen die Gesellschaft versucht,
schlechte Nachrichten zu bekämpfen. Sexuelle Gewalt gegen Kinder in
pädagogischen Institutionen, sagt er, ist weitverbreitet, sie kann in
jeder auch noch so gutwilligen geschehen.
Es gibt keine
verlässlichen Täterprofile, mit denen man sich vor Lehrern und Erziehern
zu schützen vermag, die Befriedigung darin finden, Kinder zu
beherrschen und Grenzen zu überschreiten. Und auch wenn Eltern sich
einbilden, ihre Kinder so erzogen zu haben, dass diese angstlos Auskunft
darüber geben, sobald ihnen Gewalt und Übergriffe widerfahren, ist das
keine Garantie, dass sie es im Ernstfall tatsächlich tun.
Es soll Schluss sein mit dem Erschrecken
Die
Gesellschaft, die Politik, die Institutionen machen sich etwas vor, wenn
sie glauben, das Problem werde nun kleiner, weil es seit den Skandalen
um die Odenwaldschule und andere pädagogische Einrichtungen nun ein
wenig mehr Aufmerksamkeit gibt. Sexueller Missbrauch an Kindern findet
immer noch statt, jetzt gerade, in diesem Augenblick, alle einschlägigen
Erhebungen sprechen eine unmissverständliche Sprache.
Und es mag zwar
nachvollziehbar sein, dass sich die Gesellschaft nicht ständig mit den
Traumatisierungen auseinandersetzt, die Kindern angetan werden, weil sie
sonst aus dem Erschrecken nicht mehr herausfände – aber das hilft den
gegenwärtigen und zukünftigen Opfern nicht.
Was ist seit
dem Bekanntwerden des Odenwald-Skandals wirklich geschehen, fragt sich
Huckele. Seine bittere Antwort: nichts. Gewiss, es gibt einen
Sonderbeauftragten der Bundesregierung – aber dessen Budget reicht nicht
für nachhaltige Maßnahmen. Gewiss, in Reden wird eine "Kultur des
Hinschauens" beschworen – doch in den Tagen zwischen den
Absichtserklärungen kaum etwas unternommen, die Menschen im Hinschauen
zu trainieren und ihnen Mut zu machen, gegen Untaten zu intervenieren
und den Opfern zu helfen.
Aber das Verdrängen hilft nicht mehr
Huckele zählt
auf, was alles geschehen müsste. Manches davon versteht sich gleichsam
von selbst und müsste bloß politisch durchgesetzt werden. Warum das
allerdings nicht geschieht, bleibt rätselhaft; in einer Zeit, in der
glücklicherweise zum Beispiel kaum noch jemand Anstoß an
gleichgeschlechtlichen Ehen nimmt, sollten überwältigende
Bundestags-Mehrheiten für den besseren Schutz von Kindern vor sexuellen
Übergriffen kein Problem sein.
Die
Entschädigungsansprüche der Opfer müssten ausgeweitet werden, die
Verjährungsfristen für die Täter entfallen. Am wichtigsten aber ist
Huckele wohl, dass die pädagogischen Institutionen endlich damit
beginnen, sich selbst und den ihnen Unterworfenen einzugestehen, wie
viel Macht sie haben, statt ihren edlen Absichten zu vertrauen (und dann
zu erschrecken, wenn jemand sich an ihnen versündigt).
Eine gute
Schule wäre eine, die ihren Schülern und deren Eltern sagt: Hier bei uns
kann euch Schreckliches widerfahren, wir haben Macht über euch, und
möglicherweise gibt es unter uns welche, die diese Macht missbrauchen
und euch quälen wollen. Wir wollen nicht, dass dergleichen vorkommt und
unternehmen Anstrengungen für eure Sicherheit; doch falls es vorkommt,
zögert nicht, Alarm zu schlagen, sprecht darüber, lasst es uns wissen.
Das wäre eine
Aufklärung, die weit über das hinausgeht, was pädagogische Institutionen
heute tun; und eine Selbstaufklärung, die ihnen helfen könnte, zu Orten
zu werden, an denen Kinder und Jugendliche sich sicher fühlen können.
Nun da wir wissen, was in Schulen immer wieder passiert, nützt alles
Ignorieren, Verharmlosen und Verdrängen nicht mehr. Man weiß auch mit
fest verschlossenen Augen.
Andreas
Huckele: Macht, Sexualität, Gewalt. Gesellschaftliche, politische und
pädagogische Konsequenzen aus den Missbrauchsskandalen. Rowohlt,
Reinbek. E-Book only, 40 S., 1,99 €.
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