06.05.12

2. Mai 2012 Generation Ritalin

Die ursachen von Lern- und Verhaltensproblemen und was Psychostimulanzien bei Schülern mit ADS-Symptomatik wirklich machen – damit hat sich Kinder-Lobbyist Gerald Hüther auseinandergsetzt. Immerhin werden in Deutschland gegenwärtig etwa 150 000 an ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) leidende Kinder und Jugendliche mit niedrigdosierten Psychostimulanzien behandelt. Weltweit sind es sogar einige Millionen Kinder.









Prof.Dr.Gerald Hüther, Professor für Neurobiologe


Die Effizienz dieser Behandlung wird bereits seit den 50er Jahren auf die dopaminfreisetzende Wirkung dieser Substanzen zurückgeführt. Eine unzureichende Aktivität des dopaminergen Systems im Gehirn dieser Kinder wird deshalb für die Entstehung und Aufrechterhaltung der ADS-Symptomatik verantwortlich gemacht.

Wie tragfähig sind diese alten Modellvorstellungen heute noch?
Zusammenfassung einer Einschätzung von Gerald Hüther, erschienen in: “Praxis Schule” 4/2011:


Die enormen Forschungsanstrengungen, die bisher zur Aufklärung der mit dieser Störung assoziierten neurobiologischen und molekulargenetischen Auffälligkeiten und der insbesondere durch medikamentöse Behandlungen auslösbaren therapeutischen Effekte bei ADS-Patienten gemacht wurden, stehen in eklatanten Mißverhältnis zu den bisherigen Bemühungen, geeignete präventive Maßnahmen zur Verhinderung der Manifestation dieses Störungsbildes zu  erarbeiten, einzusetzen und im Rahmen präventiver Interventionsprogramme wissenschaftlich im Hinblick auf ihre Effizienz zu überprüfen. Ursache hierfür ist einerseits das klassische alte Reparaturdenken, das bisher die Praxis, die Forschung und die Theoriebildung in der Medizin bestimmt hat und noch immer weitgehend bestimmt.

Andererseits wurde die Vorstellung eines „Dopamindefizits“ im Hirn hyperkinetischer und aufmerksamkeitsgestörter Kinder automatisch mit der Annahme verbunden, dass diese Veränderung des dopaminergen System nur genetisch bedingt sein könne. Solange aber eine genetisch verursachte Stoffwechselstörung“ für die Ausbildung dieses Störungsbildes auf der Verhaltensebene verantwortlich gemacht wurde, musste jeder Versuch, die Manifestation dieser  Verhaltensstörungen durch präventive Maßnahmen zu verhindern, als nutzloses Unterfangen erscheinen. Das einmal entwickelte Bild über die Ursache der Störung war also zu einer denk- und handlungsleitenden inneren Orientierung geworden, die nun selbst alle weiteren Forschungsstrategien und therapeutischen Bemühungen bestimmte.



Wenn also in Zukunft verstärkt nach geeigneten präventiven Maßnahmen gesucht werden soll, die zur Verhinderung der Manifestation von ADS-Symptomen führen, so wird das nur gelingen, wenn wir uns von dem bisherigem Bild über die organisch, genetisch oder neurobiologisch begründeten Ursachen dieser Verhaltensstörungen verabschieden. Erst wenn ein neues, entwicklungsneurobiologisch orientiertes Konzept die alten Modelle abgelöst hat, kann auch gezielt nach Möglichkeiten gesucht werden, die in diesen Kindern liegenden Potenziale, ihre Begabungen und besonderen Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen. Erst dann kann die Umsetzung erfolgreicher Präventivmaßnahmen in den Mittelpunkt der Anstrengungen um das Wohl und Wehe von auffälligen Kindern gerückt werden, bevor diese eine ADS-Symptomatik ausbilden.



Es gibt natürlich die einflussreichen Verbände und AD(H)S-Selbsthilfegruppen, die noch sehr konventionell denken. Viele Eltern und auch manche LehrerInnen fühlen sich von deren Argumentation angezogen. Das kann man auch verstehen. Viele dieser Eltern haben Angst vor dem Vorwurf, dass ihre Erziehung für diese Kinder vielleicht nicht optimal war. Deshalb empfinden sie die Vorstellung entlastend, dass das Hirn ihres Kindes irgendwie „kaputt“ sei oder ein genetischer Defekt vorliege, und dass das mit Ritalin bzw. Psychostimulanzien zu beheben sei. Die Elternverbände greifen dieses Bedürfnis auf und kämpfen mit unglaublicher Macht darum, dass das derzeitige Konzept bestehen bleibt.



Viele von ihnen haben Probleme damit, dass ausgerechnet Hirnforscher ihnen vorhalten, dass es vielleicht nicht so gut ist, wenn man ein sich entwickelndes Gehirn in seiner Funktionsweise mit Hilfe von Medikamenten verstellt und das Kind dadurch kaum eine Chance auf Selbstorganisationsprozesse hat. Denn all das, was das Medikament mit seinem Gehirn macht, kann es ja dann selbst nicht durch eine eigene Anstrengung erlernen. 


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