13.11.12

Wann muss das Jugendamt eingreifen?

 
 
 
Eine Behörde zwischen Elternrecht und Kindeswohl

Die in den Medien mit großer Sorgfalt aufgearbeiteten Strafverfahren gegen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe wegen Kindestötung durch Unterlassen haben zu großen Verunsicherungen geführt.
Zweifel bestehen darüber, inwieweit das Jugendamt vor dem Hintergrund eines drohenden Strafverfahrens dazu verpflichtet ist, insbesondere dem in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtlich verankerten Elternrecht Rechnung zu tragen. Andererseits wird bei entsprechenden Diskussionen in der Fachöffentlichkeit der so genannte "Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" oftmals als Argument gegen ein vorschnelles Einschreiten des Jugendamts angeführt.

Es zeigt sich damit, dass in den Diskussionen die Werteordnung des Grundgesetzes eine gewichtige Rolle spielt. Tatsächlich kann unsere Verfassung einen wesentlichen Beitrag auf dem Wege zur Beantwortung der Frage leisten, wann das Jugendamt eingreifen muss.

Einführung

Das Grundgesetz ist das Gesetz mit dem höchsten Rang in unserer Rechtsordnung. Das heißt: Das, was das Grundgesetz vermittelt, ist vorrangig vor jedem Gesetz, jeder Verordnung, jeder Satzung, jeder ministerialen oder kommunalen Richtlinie. Dies hat zur Folge, dass beispielsweise auch die einfachgesetzlichen Vorschriften des Kinder- und Jugendhilfegesetzes im Lichte der Verfassung zu interpretieren sind.

Dabei hat die Verfassung für alle diejenigen, die für den Staat tätig sind, eine besondere Bedeutung, denn jegliche staatliche Gewalt - so sagt es Art. 1 Abs. 3 GG - ist an die Verfassung gebunden. Und nicht nur die Gerichte, also insbesondere die Familiengerichte, sondern auch das Jugendamt sind in diesem Sinne "der Staat"! Was sagt uns also unsere Verfassung zum Kindeswohl, zum staatlichen Wächteramt und zur Stellung und den Aufgaben des Jugendamts?

Verfassungsrechtliche Vorgaben

Zunächst sollten die verfassungsrechtlichen Normen in den Blick genommen werden, die im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung sind:





Art. 1 GG
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) ( ... )
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Art. 2 GG
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ( ... ).
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. ( ... )

Art. 6 GG
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Ober ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) ( ... )
(5) ( ... )





Auf den ersten Blick erscheinen diese Formulierungen des Paralamentarischen Rates sehr kurz. Bezieht man jedoch ein, dass sich die Grundrechte auf die Art. 1 bis 18 des Grundgesetzes beschränken und zudem Art. 6 Abs. 3 GG eine verhältnismäßig ausführliche Regelung enthält, dann zeigt sich bereits, dass die vorliegende Problematik - und dies wird durch die historischen Materialien bestätigt - unsere Verfassungsgeber intensiv beschäftigt hat.

Für das Verständnis dieser Verfassungsartikel ist es bedeutsam, dass immer dann, wenn es um Eingriffe in das Elternrecht - d. h. um die Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts - geht, sich die Problemlösungen nicht mit Blick auf den Familienschutz in Art. 6 Abs. 1 GG, sondern in Art. 6 Abs. 2 GG finden. Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, dass diese Regelung die Beziehung zwischen Eltern und Kindern innerhalb der Familie einem besonderen Regelungskonzept unterwirft. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen stehen damit Art. 6 Abs. 2 und 3 GG.

Elternrecht und Kindeswohl

Dabei stellt Satz 1 von Art. 6 Abs. 2 GG das Elternrecht ausdrücklich unter den besonderen Schutz der Verfassung. Ausschlaggebend für diese weit reichende Grundsatzentscheidung des Verfassungsgebers ist die Erkenntnis, dass "in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution" (BVerfGE 59, 360 <376>; 61, 358 <371>).

Wesentlichen Einfluss auf die Interpretation des Inhalts von Art. 6 Abs. 2 GG hat jedoch das Kindeswohl. Dies befremdet zunächst, ist doch vom Kindeswohl in der Verfassung nicht ausdrücklich die Rede. Dies bedeutet aber nicht, dass es keine Rolle spielt. Im Gegenteil: Das Kindeswohl steht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Zentrum aller verfassungsrechtlichen Überlegungen im vorliegenden Problembereich. Dies ergibt sich daraus, dass das Elterngrundrecht sich von nahezu allen anderen Grundrechten durch seinen Pflichtgehalt ("zuvörderst ihnen obliegende Pflicht") unterscheidet (Böckenförde 1980, 68). Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG enthält damit zwar ein Recht der Eltern, jedoch nicht primär ein eigenes, sondern eines um den Schutz des Kindes willen (Jestaedt 1995, Rn. 5). Es vermittelt daher keinen "ungebundenen Machtanspruch (der Eltern) gegenüber ihren Kindern" (BVerfGE 72, 155 <172>), sondern die "verfassungsrechtliche Gewährleistung des Elternrechts gilt in erster Linie dem Schutz des Kindes" (BVerfGE 61, 358 <371>).
Es zeigt sich damit, dass das Grundgesetz zwar nicht explizit dem Wohle des Kindes Verfassungsrang einräumt, das Kindeswohl ihn jedoch gleichwohl innehat (Böckenförde 1980, 65). So sieht beispielsweise das Bundesverfassungsgericht das Kindeswohl (unter anderem) in der Formulierung zum staatlichen Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) verankert (BVerfG, EuGRZ 1998, 612 <617>). Der verfassungsrechtliche Schutz des Kindeswohls offenbart sich zudem darin, dass das Kind selbst Träger von Grundrechten ist, denn es ist nicht nur Inhaber des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und hat damit "selbst einen Anspruch auf den Schutz des Staates" (BVerfGE 24, 119 <144>). Das Kind hat nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Schließlich ist - wie bereits erwähnt - das Verhältnis von Art. 6 Abs. 1 GG zu Art. 6 Abs. 2 GG maßgeblich.

Wenn das Kindeswohl vor allem in Art. 6 Abs. 2 GG sowie in Art. 1 Abs. 1 und 2 GG verankert ist und der Familienschutz hinter der spezielleren Regelung des Elterngrundrechts zurücktritt, dann ist das Kindeswohl auch vorrangig vor dem Familienschutz.

Im Hinblick auf die "Definition" des Kindeswohls, das auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten vielfach nur die "am wenigsten schädliche Alternative" (Goldstein/Freud/Solnit, 1978) sein kann, sei - gerade im Hinblick auf die Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts - lediglich ein Aspekt hervorgehoben: die Notwendigkeit, dem Faktor Zeit hinreichend Rechnung zu tragen (Heilmann, 1998). Jegliche staatliche Maßnahme im kindschaftsrechtlichen Bereich hat die Besonderheiten des kindlichen Zeitempfindens zu berücksichtigen, sodass auch die für einen Erwachsenen als relativ kurz erscheinenden Zeiträume für ein Kind schon sehr erheblich sein können. Demnach sind die in Ausübung des staatlichen Wächteramts zu treffenden Entscheidungen - sei es im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, sei es im justiziellen Bereich - in Zeiträumen zu treffen, die diesem Umstand hinreichend Rechnung tragen. Nur so werden unnötige Nachteile für das Kind vermieden.


Das staatliche Wächteramt

Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Elternrechts überträgt die Verfassung der staatlichen Gemeinschaft in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ein staatliches Wächteramt. Dies geschieht aufgrund des besonderen Schutzbedürfnisses des Kindes (BVerfGE 24, 119 <144>), mithin zur Wahrung des verfassungsrechtlich verankerten Kindeswohls (Erichsen 1985, 49). Dabei ist "staatliche Gemeinschaft" in diesem Sinne im jeweiligen Kompetenzbereich Bund, Land oder Stadt/Kreis/Gemeinde einerseits und Legislative, Exekutive (insbesondere das Jugendamt) und Judikative (insbesondere das Familiengericht) andererseits.

In welchem Umfang kann sich der Staat aber zur Erfüllung der ihm verfassungsrechtlich übertragenen Aufgaben auch Privater, beispielsweise freier Träger, im Sinne von §§ 3 Abs. 2 S. 1, 75 SGB VIII bedienen?
Bereits der Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG spricht gegen eine (vollständige) Übertragbarkeit von Aufgaben, da die Norm sich ausschließlich an den Staat wendet. Danach können Private begrifflich nicht Träger des staatlichen Wächteramts sein. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG befindet sich zudem im so genannten Grundrechtskatalog. Damit ist grundsätzlich nur jegliche staatliche Gewalt an diese Regelung gebunden (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG). Festzuhalten bleibt damit, dass letztlich die staatliche Gemeinschaft - und nicht Private - für die Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts verantwortlich ist und bleibt. Der Staat kann sich mithin keineswegs seiner Pflicht zur Ausübung des staatlichen Wächteramts durch Übertragung von Aufgaben auf freie Träger gänzlich entledigen.

Die Gesamtverantwortung zur Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts - und damit auch für die Jugendhilfe - bleibt beim Staat (BVerfGE 22, 180 <201 f.>). Er muss folglich aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung in allen Fällen einer Aufgabenwahrnehmung durch Private (beispielsweise freie Träger) sicherstellen, dass er in der Lage ist, gegenüber diesen die Pflichten durchzusetzen, denen er selbst in Ausübung des Wächteramts von Verfassungs wegen genügen muss (Jestaedt 1995, Rn. 182). Aus diesem Grunde hat er eine Überwachungs- und Kontrollfunktion (Heilmann 2000). Hierzu gehört es auch, dass die freien Träger dem Staat die Wahrnehmung seiner Überwachungspflicht durch das Zur-Verfügung-Stellen von Informationen ermöglichen. Es ist in diesem Zusammenhang aber auch zu berücksichtigen, dass sich die Pflicht des Staats zum Einschreiten jedenfalls so lange nicht aktualisiert, wie das Notwendige von anderer Seite getan wird. Der Umfang von Überwachung und Kontrolle hängt damit vom Einzelfall ab, doch ist ein Mindestmaß unabdingbar, um auch über den Umfang und die Art eigener (staatlicher) Aufgabenwahrnehmung befinden zu können (Heilmann 2000).

Das staatliche Wächteramt dient der Verhütung von Verletzungen des Kindeswohls (vgl. BVerfGE 10, 59 <84>). Das Kindeswohl ist damit die Richtschnur für den Auftrag des Staats aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG (vgl. BVerfGE 24, 119 <144 f.>). Können Beeinträchtigungen des Kindeswohls jedoch nur gegen den Willen der Eltern abgewehrt werden, stellte sich die Frage, inwieweit das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG staatlichen Eingriffen in das Eltern-Kind-Verhältnis Grenzen setzt.

Die Antwort enthält zum einen Art. 6 Abs. 3 GG. Danach darf ein Kind gegen den Willen der Eltern von diesen nur getrennt werden, wenn diese versagen oder die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Diese Regelung bestätigt, dass es bei der Ausübung des staatlichen Wächteramts, insbesondere bei der Trennung von Eltern und Kind, nicht darum gehen kann, eine bessere oder optimale Erziehung für das Kind zu gewährleisten, sondern darum, das Kind vor Schaden zu bewahren (Böckenförde 1980, 76). Die von der Verfassung geforderte gesetzliche Grundlage findet sich dabei in erster Linie in §§ 1666, 1666a BGB sowie in §§ 42, 43 SGB VIII.

Zum anderen findet sich die Antwort auf die Frage nach den Grenzen für Eingriffe in das Elternrecht im "Grundsatz der Verhältnismäßigkeit". Dieser wird in der jugendhilferechtlichen Diskussion häufig fehlinterpretiert und ausschließlich in dem Sinne verstanden, der Staat müsse immer das mildeste Mittel anwenden, d. h. die Hilfe sei immer vorrangig vor dem Eingriff in das Elternrecht, beispielsweise der Herausnahme des Kindes. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt jedoch, dass jeder staatliche Eingriff in Grundrechte - hier das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG - geeignet (zur Verfolgung des intendierten Zwecks), erforderlich (d. h. nicht mit milderem Mittel gleichermaßen effektiv) und verhältnismäßig im engeren Sinn (d. h. zumutbar) sein muss (Jarass/Pieroth 1995, Art. 20 Rn. 58 ff.). Ihm ist damit zunächst der grundsätzliche - nicht generelle! (Heilmann 2000) - Vorrang der Hilfe vor dem Eingriff zu entnehmen. Dieser lässt sich im Übrigen auch daraus herleiten, dass die Verfassung die Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt (Art. 6 Abs. 1 GG). Entsprechend ist ein vorrangiges Ziel auch der Erhalt der Funktionsfähigkeit der Familie, was auf der Erwägung beruht, dass ein Kind in der Familie grundsätzlich am besten aufgehoben ist und ihm dort in der Regel alles zuteil wird, was es für sein Wohl benötigt (BVerfGE 52, 214 <217>).

Der Staat hat somit grundsätzlich die vorhandenen helfenden und unterstützenden Maßnahmen auszuschöpfen, um elterliches Versagen auszugleichen, bevor er das Mittel eines weiter gehenden Eingriffs wählt (BVerfGE 60, 79 <95>; Salgo 1989, 161 f.). Diese Aussage darf jedoch nicht missverstanden werden, denn sie erfährt eine äußerst gewichtige Einschränkung! Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fordert, dass die staatliche Maßnahme in Ausübung des staatlichen Wächteramts geeignet, erforderlich und zumutbar sein muss, um unter Wahrung der grundsätzlichen Subsidiarität des staatlichen Wächteramts gegenüber der elterlichen Wahrnehmung der Pflege- und Erziehungsaufgaben den Schutz des Kindeswohls zu gewährleisten (Erichsen 1985, 57 f.).
Ein Schwerpunkt liegt hier aber bei der Geeignetheit der Maßnahme: Diese muss ein brauchbares Mittel zur Erreichung der von der Verfassung als vorrangig betonten Abwehr der Kindeswohlgefährdung darstellen. Im Ergebnis heißt dies, dass - soweit die Gefahr für das Kindeswohl in dieser Form wirkungsvoll abgewendet werden kann - die Maßnahmen des staatlichen Wächteramts auf die (Wieder-)Herstellung eines verantwortungsbewussten Verhaltens der Eltern und damit des funktionierenden Eltern-Kind-Verhältnisses zu orientieren und gleichzeitig zu beschränken ist (BVerfGE 24, 119 <145>).

Dabei sind freilich die Vor- und Nachteile der im Handlungsspektrum des Staats befindlichen Maßnahmen unter dem Blickwinkel des Kindeswohls gegeneinander abzuwägen. Soweit mithin das verfassungsrechtliche Gebot der Wahrung des Kindeswohls es zulässt, kann der Staat dem staatlichen Wächteramt folglich auch durch die Gewährung familienbegünstigender Leistungen bzw. durch das Angebot freiwilliger Erziehungshilfen entsprechen und dabei auch freie Träger einbeziehen (Jestaedt 1995, Rn. 206). Reicht jedoch dieses Angebot freiwilliger Maßnahmen nicht aus - kann aufgrund dieser Maßnahmen mithin eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Gesundheit des Kindes nach menschlichem Ermessen nicht vollständig ausgeschlossen werden -, hat er in Ausübung des staatlichen Wächteramts die Ultima Ratio der sorgerechtsbeschränkenden Intervention einzuleiten bzw. zu ergreifen. Freilich nur, soweit es aus Gründen der Abwehr der Kindeswohlbeeinträchtigung erforderlich ist, gegebenenfalls aber auch einhergehend mit einer (zunächst grundsätzlich vorläufigen) Trennung des Kindes von den Sorgeberechtigten.

Helfende und eingreifende Maßnahmen sind auch nicht im Sinne einer zeitlichen Staffelung — etwa in der Weise, dass die geringer in das Elternrecht eingreifende Maßnahme zunächst generell den Vorzug genießen würde - zu ergreifen. Dies ergibt sich — neben der maßgeblichen Aufgabe des Kindesschutzes und des in diesem Sinne zu interpretierenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - daraus, dass der Staat nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen (BVerfGE 24, 119 <144>, 56, 363 <384>; 60, 79 <88>). Ihm ist damit die Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts als Pflicht auferlegt (Erichsen 1985, 49). Er hat folglich - und auch dies ist eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - die Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, den Schutz des Kindeswohls am effektivsten zu gewährleisten. Nur - und dies ist entscheidend - wenn verschiedene Maßnahmen der Abwehr einer Kindeswohlgefährdung gleich effektiv sind, dann verlangt die Stufe der "Erforderlichkeit" im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Wahl der geringer in das Elternrecht eingreifenden Maßnahme.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt mithin eine Vorgehensweise des Jugendamts, die auch vom Grad der Kindeswohlgefährdung abhängig ist. Je schwer wiegender die mögliche Kindeswohlbeeinträchtigung ist, desto niedriger sind dabei die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit dieser Kindeswohlbeeinträchtigung. Handelt es sich mithin um Fälle, bei denen infolge grober Vernachlässigung mit zunehmendem Zeitablauf erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung bis zum Tod des Kindes nicht gänzlich ausgeschlossen werden können, dann genügt ein sehr geringer Prozentsatz an Wahrscheinlichkeit für diese schwer wiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen, um das staatliche Wächteramt zu aktivieren.


Konsequenzen

Das Jugendamt steht vor dem Problem, einerseits nicht verfrüht und nicht mit zu hoher Intensität in elterliche Befugnisse einzugreifen, auf der anderen Seite aber Gefährdungen des Kindeswohls rechtzeitig und effektiv abwehren zu müssen. Es muss daher unterscheiden zwischen der Möglichkeit, elterliche Ressourcen einerseits zu re-(aktivieren) und andererseits die (tatsächlich) geeigneten Maßnahmen zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung, ggf. in Form der Herausnahme des Kindes, zu treffen. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Gefahr der Traumatisierung durch Trennung (Zenz 1979, 258 ff.) einerseits und die Gefahr einer fortwährenden Kindeswohlgefährdung andererseits als Damoklesschwert über dem Prozess der Entscheidungsfindung schwebt, wird ersichtlich, dass hier in fachlicher Hinsicht außerordentlich schwierige Entscheidungen zu treffen sind. Dies wird auch dadurch verdeutlicht, dass mit einer zu sehr in elternrechtliche Positionen eingreifenden Maßnahme in der Regel zugleich Vorentscheidungen im Hinblick auf künftige Handlungsalternativen getroffen werden: Häufig wird in diesem Fall eine Zusammenarbeit zwischen Behörde und Eltern bzw. die Wahrnehmung von Hilfeangeboten erschwert.

Die unter anderem hierdurch bedingte Notwendigkeit eines hohen fachlichen Standards kann nur durch eine besonders hohe fachliche Qualifikation gewährleistet werden. Die im Kinder- und Jugendhilfegesetz vorgesehene Qualifikation der in diesem Bereich tätigen Mitarbeiter (vgl. § 72 Abs. 1 SGB VIII) ist hier nur ein Baustein, neben unumgänglicher und stetiger Supervision und Fortbildung. Dementsprechend und auch im Einklang mit den hohen verfassungsrechtlichen Anforderungen sieht § 72 Abs. 3 SGB VIII vor, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe umfassende Fortbildungs- und Praxisberatungsprogramme für die Mitarbeiter des Jugendamts und des Landesjugendamts sicherzustellen haben. Nur hinreichend qualifizierte Personen dürfen und können in diesem hoch sensiblen Bereich eingesetzt werden! Letztlich muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass innerhalb des kindschaftsrechtlichen Gefüges unzureichend qualifizierte Personen mehr Schaden anrichten können als sie Positives zu leisten vermögen (Heilmann 2000).
Dass zur Erfüllung der von der Verfassung übertragenen Aufgaben ein im oben genannten Sinne hinreichend qualifiziertes und fortgebildetes Personal auch in der notwendigen Quantität zur Verfügung stehen muss, ist vor diesem Hintergrund - auch in einer Zeit knapper kommunaler Ressourcen (!) - im Grunde genommen eine Selbstverständlichkeit.

Die verfassungsrechtlichen Vorgaben verdeutlichen aber auch, dass dem Jugendamt im Rahmen seiner unmittelbar aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG abzuleitenden Verpflichtung zur aktiven Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts gegebenenfalls ein massiver Eingriff in elternrechtliche Befugnisse - wie beispielsweise die Herausnahme des Kindes - nicht erspart bleibt. Dass dies dem Gesetzgeber auch bei der Reform des Kinder- und Jugendhilferechts im Jahre 1991 klar war, ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass er in § 1 Abs. 3 Ziff. 3 SGB VIII festlegt, dass die Jugendhilfe Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen soll.

Nach alledem muss zwar auf der einen Seite vor der Gefahr einer verfrühten Herausnahme des Kindes aus der Herkunftsfamilie gewarnt werden. Es ist aber auf der anderen Seite auch der ebensolchen Fehltendenz entgegenzutreten, die dazu führt, dass Problemfamilien eine immer neue Chance gegeben und das Kind dabei zum Versuchsobjekt staatlicher Familienrehabilitierung wird (Coester 1991, Rn. 4). Im Lichte der verfassungsrechtlich gebotenen Kindeswohlorientierung staatlichen Handelns ist beides nicht zu rechtfertigen (vgl. Heilmann 2000).

Zusammenfassung

Das Kindeswohl ist verfassungsrechtlich besonders geschützt.
Der Schutz des Kindeswohls ist letztlich vorrangig vor dem Elternrecht und dem Schutz der Familie.
Das Jugendamt ist Träger des staatlichen Wächteramts zum Schutz des Kindes! Der Staat kann sich seiner Pflicht zur Ausübung des staatlichen Wächteramts durch Übertragung von Aufgaben auf freie Träger nicht entledigen. Er behält in jedem Fall eine Überwachungs- und Kontrollfunktion.
Wichtigster Orientierungspunkt für Maßnahmen in Ausübung des staatlichen Wächteramts ist das verfassungsrechtliche Bekenntnis zur Vorrangigkeit des Kindeswohls.

Im Rahmen der Ausübung des staatlichen Wächteramts ist insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, wobei ein Schwerpunkt bei der Geeignetheit der Maßnahme zu finden ist: Jede Maßnahme des Staats - also des Jugendamts, aber auch der Gerichte - muss ein brauchbares Mittel zur Erreichung der von der Verfassung als vorrangig betonten Abwehr der Kindeswohlgefährdung darstellen.
Der Staat - und damit auch das Jugendamt - muss bei jeder Maßnahme, die er ergreift, das Ausmaß und die Wahrscheinlichkeit der zu gewährenden Beeinträchtigung des Kindeswohls beurteilen. Auch muss das Jugendamt die Vor- und Nachteile aller zur Verfügung stehenden Maßnahmen gegeneinander abwägen. Um so höher jedoch das Ausmaß einer möglichen Beeinträchtigung des Kindeswohls ist, desto niedriger darf - zur Rechtfertigung eines Eingriffs - die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt von Nachteilen für das Kind sein. Im Zweifel muss der Staat und damit das Jugendamt immer diejenige Maßnahme wählen, die eine Wahrung des Kindeswohls am effektivsten gewährleistet.
Dr. jur. Stefan Heilmann*


Literaturverzeichnis:

Böckenförde, E.-W., 1980: Elternrecht - Recht des Kindes - Recht des Staates. In: Krautscheidt, J./Marré, H., Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche [Band 14], Münster, S. 54 - 98.
Coester, M., 1991: Kommentierung zu § 1666a BGB, In: Staudinger, J., Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Auflage, Berlin.
Erichsen, H.-U., 1985: Elternrecht - Kindeswohl - Staatsgewalt, Berlin.
Fieseler, G./Schleicher, H., 2000: Kinder- und Jugendhilferecht, Gemeinschaftskommentar zum SGB VIII, Neuwied.
Goldstein, J./Freud, A./Solnit, A., 1978: Jenseits des Kindeswohls, Frankfurt am Main.
Heilmann, S., 1998: Kindliches Zeitempfinden und Verfahrensrecht, Neuwied.
Heilmann, S., 2000: Hilfe oder Eingriff? 
Verfassungsrechtliche Überlegungen zum Verhältnis von staatlichem Wächteramt und Jugendhilfe, In: Zentralblatt für Jugendrecht, Heft 2, S. 41 - 50. Jarass, H./Pieroth, B., 1992: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, München.
Jeand`Heur, B., o. J.: Der Kindeswohl-Begriff aus verfassungsrechtlicher Sicht - Ein Rechtsgutachten, Kinderbeauftragter der Landesregierung Nordrhein-Westfalen/Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (Hrsg.).
Jestaedt, B., 1995: Kommentierung von Art. 6 GG. In: Kommentar zum Bonner Grundgesetz, 75. Lieferung, Heidelberg.

Salgo, L., 1989: Das Kindeswohl in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Reinmar du Bois [Hrsg.], Praxis und Umfeld der Kinder- und Jugendpsychiatrie, S. 161 ff.
Zenz, G., 1979: Kindesmisshandlung und Kindesrechte, Frankfurt am Main.
* Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht und dort insbesondere zuständig für Kindschaftsrecht.

Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung von Vorträgen, die Dr. Heilmann bei der gemeinsamen Fachtagung "Wächteramt und Jugendhilfe" des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) und des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) bzw. bei einer Tagung mit dem Thema "Kindeswohl, staatliches Wächteramt und Garantenpflicht des Jugendamtes" im Rahmen einer Kooperationsveranstaltung zwischen der Stadt Frankfurt am Main und der Fachhochschule Frankfurt am Main gehalten hat. 
 
 
In leicht abgewandelter Form ist er unter dem Titel "Das staatliche Wächteramt im Spannungsfeld zwischen Elternrecht und Kindeswohl" erschienen in: Unsere Jugend, Heft 10/2001.

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