14.11.12

Missbrauch von Heimkindern Und nachts kam der Pfarrer

Von Gesa Fritz
Hans Kloos vor dem ehemaligen Kinderheim in Wiesbaden, in dem er geboren wurde. Mit knapp sieben Jahren kam er dann ins von Nonnen geleitete St. Antoniusheim – „es war der     Horror“, berichtet er heute.  Foto: Rolf Oeser
 
 
Sexueller Missbrauch durch den Geistlichen, Schläge und Zwang zur Kinderarbeit durch die Nonnen: Zwei Zeitzeugen erzählen von ihrer Kindheit in den 1950er Jahren im katholischen St. Antoniusheim in Wiesbaden.

Die Angst der Jungen erreichte ihr Höchstmaß, wenn abends im Flur noch einmal das Licht anging. Dann wussten sie: Der Pfarrer ist wieder unterwegs. Gleich würde er ihren Schlafsaal betreten, den der Kleinen im damaligen katholischen St. Antoniusheim in Wiesbaden. Gleich würde er sich einen der sechs- bis zehnjährigen Jungen greifen. Meist einen, der den Nonnen tagsüber unangenehm aufgefallen war. Er würde ihn auf den Arm nehmen und hinaustragen. „Mir hat er dann Nachthemd und Unterhose ausgezogen, und ich musste mich so auf seinen Schoß setzen“, sagt Hans Kloos.

Dies ist die Geschichte von Hans Kloos und Peter Dinkel, die in den 1950er Jahren als Kinder im St. Antoniusheim am Bahnholz in Wiesbaden gelebt haben. Der Pfarrer, die Nonnen, die Lehrer von damals haben zu Lebzeiten geschwiegen. Heute sind sie tot. Jetzt wollen Kloos und Dinkel reden. 


Hilfe für ehemalige Heimkinder
 
Seit wann gibt es den Hilfsfonds für Heimkinder?

Am 1. Januar 2012 wurde der Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ ins Leben gerufen. Seine Einrichtung war vom „Runden Tisch Heimerziehung“ empfohlen worden, der von 2009 bis 2012 beraten hatte, wie man ehemaligen Heimkindern besser helfen könnte. Der Fonds ist 120 Millionen Euro schwer, wird vom Bund, den westlichen Bundesländern und beiden christlichen Kirchen getragen und soll Menschen helfen, die als Kinder in deutschen Heimen misshandelt wurden oder Zwangsarbeit leisten mussten. Wie in allen Bundesländern wurden Anfang Januar auch in Hessen sechs Anlauf- und Beratungsstellen für Betroffene eingerichtet. Wir erklären, wie sie arbeiten.


Seit vor drei Jahren die Missbrauchsfälle in katholischen Kinderheimen durch die Medien gingen, ist das Thema für sie wieder präsent. „Das hat bei mir zu einer echten Lebenskrise, einer Re-Traumatisierung geführt“, sagt der heute 70-jährige Dinkel. Bis dahin hatte er sich eingeredet, sein Schicksal sei ein Einzelfall. Kloos wird heute in Wiesbaden erstmals öffentlich über seine Kindheit in dem Heim sprechen.


Die Beratungsstellen
Die sechs Beratungsstellen 

in Hessen sind bei den Sozial- und Versorgungsämtern in Darmstadt, Frankfurt, Fulda, Kassel, Gießen und Wiesbaden angesiedelt. Sie bestehen seit dem 1. Januar 2012 und sollen bis zum 31. Dezember 2016 ehemaligen Heimkindern mit Rat und Tat zur Seite stehen. Weitere Informationen zum „Fonds Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ finden sich auch im Internet unter www.fonds-heimerziehung.de.


Die Adressen und Kontaktdaten der hessischen Beratungsstellen lauten wie folgt:
Hessisches Amt für Versorgung und Soziales Darmstadt, Schottener Weg 3, 64289 Darmstadt, 061 51 / 738156, peter.dengler@havs-dar.hessen.de
Hessisches Amt für Versorgung und Soziales Frankfurt, Walter-Möller-Platz 1, 60439 Frankfurt, 069 / 156 72 25, a.schaefer@havs-fra.hessen.de
Hessisches Amt für Versorgung und Soziales Fulda, Washingtonallee, 36041 Fulda, Telefon: 06 61 / 620 73 12,thomas.witzel@havs-ful.hessen.de
Hessisches Amt für Versorgung und Soziales Kassel, Raphael Brill, Frankfurter Str. 84 A, 34121 Kassel, 05 61 / 209 93 10, raphael.brill@havs-kas.hessen.de
Hessisches Amt für Versorgung und Soziales Gießen, Südanlage 14 A, 35390 Gießen, 06 41 / 793 63 50, willi.schroeder@havs-gie.hessen.de
Hessisches Amt für Versorgung und Soziales Wiesbaden, John-F.-Kennedy-Str. 4, 65189 Wiesbaden, Telefon: 06 11 / 715 71 50, werner.meinhardt@havs-wie.hessen.de

Kloos wurde am 3. Juli 1950 in einem katholischen Kinderheim in Wiesbaden geboren und verbrachte dort seine ersten Lebensjahre. Seine Mutter war das, was man ein gefallenes Mädchen nannte: minderjährig und schwanger von einem verheirateten Mann. Seine ersten dichten Erinnerungen beginnen damit, wie er schulpflichtig wird und mit knapp sieben Jahren in das von Nonnen geleitete St. Antoniusheim am Bahnholz für Jungen wechselt. „Es war der Horror“, sagt Kloos.

Auch heute gibt es ein Antoniusheim in Wiesbaden, betrieben von der Caritas. Mit dem Kinderheim, von dem diese Geschichte handelt, hat die Caritas nichts zu tun. Sie ist erst seit 1971 Trägerin der Einrichtung. Dennoch melden sich immer wieder Menschen, die das von Nonnen geführte Heim besucht haben. „Sie erzählen von Misshandlungen und großer Gefühlskälte“, sagt Elke Schreiber vom Caritas-Antoniusheim. 

Geschlagen wurde mit allem, was greifbar war
Die Tage von Kloos und Dinkel begannen damals um sechs Uhr mit „Aufwachen!“ und „Gelobt sei Jesus Christus!“ brüllenden Nonnen, so erzählen die Männer. Um den Hals, über dem Habit, trugen sie zusätzlich Trillerpfeifen. Wer nicht sofort aus dem Bett sprang und in den Waschraum floh, handelte sich die erste Tracht Prügel ein. „Geschlagen wurde mit allem, was eben greifbar war: mit Stöcken, Besen oder dem Handfeger“, sagt Kloos.
Dinkel kam 1949 im Alter von acht Jahren als Halbwaise in das Heim und blieb, bis er 14 war. Auch wenn sie gleichzeitig dort gewesen wären: Kloos und Dinkel hätten sich schwerlich näher kennenlernen können. „Freundschaften unter den Kindern ließen die Nonnen nicht zu“, sagt Kloos.

Körperstrafe, Willensbrechung und Züchtigung hatten laut Dinkel im Heim Methode. Er wurde einmal ertappt, als er an einem katholischen Feiertag ein Stück Papier in einen Graben warf. „Das Strafmaß: mit bloßen Händen den gesamten Straßengraben entlang des Anwesens von Unrat säubern“, sagt Dinkel. Zwei Tage lang hatte er damit zu tun, beaufsichtigt von den Nonnen, verhöhnt von den übrigen Heimkindern.

Dokumente, die belegen könnten, was damals in dem Heim passiert ist, finden sich nicht mehr – falls die Misshandlungen überhaupt jemals schriftlich fixiert wurden. Nicht im Mutterhaus der Nonnen im Schwarzwald, wo die Gräber von Schwestern stehen, die im St. Antoniushaus waren. Nicht beim Bistum Limburg, das eigene Missbrauchsbeauftragte für ehemalige Heimkinder hat. Und auch nicht beim Jugendamt in Wiesbaden, bei dem die Vormundschaft für Kloos lag. So bleiben die Aussagen der ehemaligen Heimkinder, die der FR als eidesstattliche Erklärungen vorliegen. Solche Zeugenaussagen werden so ernst genommen, dass der Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ auf ihrer Grundlage Leistungen bewilligt.

Beim Anblick des Pfarrer in Ohnmacht gefallen
An drei Tagen pro Woche vor dem Frühstück und alle Sonntagabende wurden die Jungen zu Andacht und Messe in die Kapelle gezwungen. In Dreierreihen, mit Sprechverbot. Immer wieder fielen Jungen beim Anblick des Pfarrers in Ohnmacht. Oft war Kloos unter ihnen. Nach dem nächtlichen Besuch des Geistlichen war das Zusammentreffen am Morgen zu viel für Kloos. 

Das Antoniusheim in den 1950er Jahren. Die Gebäude  gibt es nicht mehr.
Das Antoniusheim in den 1950er Jahren. Die Gebäude gibt es nicht mehr.
Foto: Heinz-Archiv
 
 
Frühstück gab es für die etwa 40 Kinder an zwei großen Tafeln im Ess-Saal. Wieder schweigend. Dann ging es in die zum Heim gehörende Schule. „Das Spezialgebiet der Lehrerin der Kleinen waren Schläge mit dem Rohrstock in die Hand“, sagt Kloos. Nach dem Mittagessen mussten die Jungen bis zum Abendessen zur Arbeit bei einem Bauern. Während der Schulzeit. In den Ferien hatten die Kinder zwölf Stunden täglich, von Frühstück bis Abendessen, in der Landwirtschaft zu arbeiten. „Die Nonnen haben unsere Arbeitskraft verwaltet“, sagt Kloos.

Der 61-Jährige ist heute selbstständiger Bilanzbuchhalter. Seine Abschlüsse hat er an Abendschulen erworben. Zehn Jahre lang war er Vorsitzender des Kinderschutzbundes Wiesbaden. Dinkel ist heute ein renommierter Stegreifkomiker in Darmstadt. „Viele ehemalige Heimkinder kommen nie mit ihrer Vergangenheit klar, sind psychisch krank, haben keinen Beruf“, sagt Kloos.
Kloos wollte Ausgleichszahlungen aus dem Rentenersatzfonds. Ehemalige Heimkinder können Geld erhalten, wenn sie zur Arbeit gezwungen wurden. Allerdings gilt das nur, wenn ab dem 14. Lebensjahr Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden. Kloos verließ das Heim mit neun Jahren – zu jung, um Ansprüche zu erwirken.

Auch die katholische Kirche bietet über ihre Missbrauchsbeauftragten Unterstützung an. „Erste Priorität ist immer, dass die Menschen seelisch stabilisiert werden“, sagt Patricia Arndt, Pressesprecherin des Bistums Limburg. Die Beauftragten würden seelsorgerische Hilfe leisten, therapeutische Hilfe vermitteln und bei Anträgen auf finanzielle Mittel unterstützen. Ein ehemaliges Heimkind aus dem Bahnholz soll sich bisher in Limburg gemeldet haben. „Was damals passiert ist, kann man mit Geld nicht wiedergutmachen“, sagt Arndt. 

Opfer wollen, dass die Kirche Verantwortung übernimmt
„Eine blanke Entschuldigung ist für mich ein Hohn“, sagt Dinkel, der nur eine geringe Rente erhält. Er will, dass die Kirche auch finanziell ihre volle Verantwortung übernimmt und ehemaligen Heimkindern durch eine Aufstockung der Rente einen würdigen Lebensabend ermöglicht. „Das wäre für mich der erste Schritt zur Vergebung“, sagt Dinkel.
Für Kloos ist es aus ganz anderen Gründen undenkbar, mit Entschädigungsforderungen auf die katholische Kirche zuzugehen: „Es ist eine Zumutung, wenn die Opfer an die Kirche als Bittsteller herantreten sollen“, sagt er.
Damals machten die Erlebnisse des Tages Dinkel zum Bettnässer. Für die Nonnen nicht hinnehmbar. „Man holte mich aus dem Tiefschlaf, zerrte mich aufs Abort, ließ mich meine Notdurft verrichten und steckte mich dann kopfüber/kopfunter in die Kloschüssel, während man hämisch die Spülung bediente“, sagt Dinkel.

Korpulente Menschen konnte Kloos lange Zeit nur schwer ertragen. Jüngst wurde ihm klar, warum: Der Pfarrer war dick. „Mich hat er abends häufig mitgenommen“, sagt Kloos. Salbungsvoll habe der Pfarrer dann auf das nackte Kind auf seinem Schoß eingeredet, es befingert und sexuell missbraucht. „Es tat wahnsinnig weh“, sagt Kloos und bricht seine Geschichte ab.
Einmal, erzählt er dann noch, habe er den Nonnen von dem Missbrauch berichtet. „Da wurde ich erst richtig vermöbelt, weil ich lüge und Fantasien habe.“


Hans Kloos spricht über Misshandlung und Missbrauch im St. Antoniusheim am Freitag, 15. Juni, ab 18 Uhr in den Räumen der Freireligiösen Gemeinde Wiesbaden, Rheinstraße 78.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen