Zoe,
2, starb praktisch unter den Augen des Jugendamtes. Gegen die
Hilfsorganisation Idepended Living (IL) wird wegen Betrugsverdachts
ermittelt. Der Fall erzählt von einer Branche, die mit Steuergeld hohe
Umsätze macht.
Wuschelhaare, Jeans, das Hemd über der Hose – Andreas Spohn gibt sich gerne locker, wenn er Besucher in seiner Unternehmenszentrale im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg empfängt. Nein, er strebe nicht nach Reichtum, versichert der 53-Jährige. Was ihn treibe, sei Idealismus.
Wuschelhaare, Jeans, das Hemd über der Hose – Andreas Spohn gibt sich gerne locker, wenn er Besucher in seiner Unternehmenszentrale im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg empfängt. Nein, er strebe nicht nach Reichtum, versichert der 53-Jährige. Was ihn treibe, sei Idealismus.
Spohn ist der Vorsitzende des Trägerverbundes
"Independent Living" (IL). Der ist seit Januar in der Kritik und das
nicht zum ersten Mal. Zwei Mitarbeiterinnen hatten im Auftrag des
Jugendamtes Berlin-Pankow die Mutter der zweieinhalbjährigen Zoe
betreut. Das kleine Mädchen starb an einer Bauchfellentzündung, Folge
eines Darmrisses durch Gewalteinwirkung.
Noch am Tag vor Zoes Tod, als das Kleinkind schon um
sein Leben kämpfte, waren zwei Familienhelferinnen von "Independent
Living" zu einem ausführlichen Gespräch in der Wohnung. Sie sahen, dass
es dem Kind schlecht ging, aber glaubten der Mutter, dass sie zum Arzt
gehen würde, obwohl sie viele Male zuvor diese Versprechungen nicht
gehalten hatte. Der Geschäftsführer von "Independent Living" in Pankow
spricht von einem "sehr bedauerlichen, tragischen Fall". Auch das
Jugendamt verteidigt den Träger; dem sei nichts vorzuwerfen.
Steuergelder trotz Vorwürfe
Inzwischen ermittelt nach Informationen des stern
die Berliner Staatsanwaltschaft im Fall Zoe gegen IL-Mitarbeiter – wenn
auch nicht wegen des Kindstodes, sondern wegen des Verdachts auf
Betrug. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf eine wenig bekannte Branche,
die mit Steuergeld jedes Jahr hohe Umsätze macht. Mehr als 400 Millionen
Euro pro Jahr reicht allein das Land Berlin für Hilfen zur Erziehung an
rund 780 freie Träger weiter. "Independent Living" ist einer der Profiteure.
Mitgründer Andreas Spohn war vor dem Mauerfall
kurzzeitig Offiziersschüler der Nationalen Volksarmee der DDR, dann
Diplom-Erzieher und Streetworker, schließlich hat er zusammen mit
Partnern in den vergangenen 20 Jahren einen der größten Sozialkonzerne
der Region aufgebaut. Die in dem von ihm geführten Trägerverbund
organisierten gemeinnützigen Vereine und Gesellschaften erwirtschafteten
im Jahr 2010 mit um die 700 Beschäftigten einen Umsatz von rund 35
Millionen Euro. Spohns Reich erstreckt sich über Berlin, Brandenburg und
zwei weitere Bundesländer. "Independent Living" bietet Familienhilfe,
betreibt Wohngemeinschaften für vom Jugendamt betreute Heranwachsende,
führt Kitas, ein Kinder- und Jugendtelefon sowie Jugendclubs. Und obwohl
es gegen den Verbund immer wieder Vorwürfe gab, fließen die
Steuergelder weiter.
Allein der IL-Verein in Pankow, der Zoe betreut hatte,
verzeichnete im Jahr 2010 Umsatzerlöse von an die 1,7 Millionen Euro.
Wieviel davon das örtliche Jugendamt bezahlt hat, ist selbst dessen
Leiterin Judith Pfennig nach ihren eigenen Angaben unbekannt. Das sei
für sie "nicht relevant". Es könnten aber gut einige hunderttausend Euro
sein, räumt sie ein.
Fiktion der Selbstlosigkeit
Normalerweise müssen öffentliche Behörden
Dienstleistungen ab einem Schwellenbetrag von 200.000 Euro europaweit
ausschreiben. Für Sozialleistungen, wie sie Spohns Gesellschaften
anbieten, gilt das nicht. Hier waltet die Fiktion vom selbstlosen
gemeinnützigen Helferverein.
Diese Prämisse gilt zumindest für Spohns Sozialvereine:
Als gemeinnützige Einrichtungen dürfen sie keinen Profit für die
Eigentümer erwirtschaften, sondern sie müssen "selbstlos" tätig sein.
Daher sind sie auch von bestimmten Steuern befreit.
Doch das edle Prinzip der Selbstlosigkeit gilt nicht für
alle Aktivitäten, an denen Spohn beteiligt ist. Daneben hat der
umtriebige Brandenburger über die Jahre zusammen mit einem
Geschäftspartner ein zweites Firmenimperium aufgebaut, den UCR Serviceverbund.
Dessen vielfach untereinander verflochtene Unternehmen arbeiten weder
gemeinnützig, noch selbstlos. Doch sie leben weitgehend von den
Aufträgen der gemeinnützigen IL-Gesellschaften, machen für sie
Buchhaltung, Computeradministration, PR, Webdesign, Hausmeisterdienste
und vieles mehr. An neun dieser Gesellschaften ist Spohn – Stand Juni
2012 – persönlich indirekt als Gesellschafter beteiligt. Er präsentiert
sich also als Wohltäter, kann aber am Ende selber Gewinne abschöpfen.
Was er aber nicht tue, wie er versichert.
Vernetzung mit Politik
Am Briefkasten des zentralen Berliner Firmensitzes, den
sich Independent Living und UCR in Bürogemeinschaft teilen, stehen die
Namen von 31 Vereinen und Gesellschaften. Spohns Vereine sind darauf
angewiesen, dass die Behörden immer wieder Aufträge und Fälle vergeben.
Im Geschäftsbericht eines IL-Kinderheims war vor einigen Jahren offen
die Rede von Problemen mit einem "Belegungsrückgang". Zwecks besserer
"Auslastung" der Wohngruppen habe man eine "Verbesserung der
Zusammenarbeit mit den Jugendämtern" suchen müssen.
Bei einem Berliner IL-Verein amtiert bis heute eine Frau
als Vizevorsitzende, die gleichzeitig lange Jahre im Jugendamt
Berlin-Mitte arbeitete. Das Amt versichert, dass die Mitarbeiterin "zu
keinem Zeitpunkt" Leistungen der Hilfe zur Erziehung an Träger zu
vermitteln gehabt habe. Überdies habe sie "nach der Veröffentlichung von
Vorwürfen gegenüber dem Träger" in schriftlicher Form "das Ruhen" ihrer
Vereinstätigkeit erklärt. Doch im Vereinsregister blieb die
Sozialarbeiterin unverändert als Vizechefin aufgeführt. "Natürlich kann
man das als Problem sehen", räumt Spohn heute ein. Jede Art von
Vetternwirtschaft lehne er aber ab.
Es muss kein Schaden für ihn sein, dass Wohlfahrtsunternehmer Spohn selbst politisch gut vernetzt ist. In Frankfurt (Oder) führt er seit vier Jahren die SPD-Fraktion im Stadtparlament.
Eine Spohn-Gesellschaft in der Oder-Stadt reklamierte gar nicht erst -
wie sonst oft bei ähnlichen Vereinen üblich - parteipolitische
Unabhängigkeit für sich. Sie brüstete sich jahrelang damit, "eng" mit
der örtlichen SPD zusammen zu arbeiten - sowie mit einem damaligen
Landtagsabgeordneten der PDS.
Verdi kritisiert willkürliche Kündigungen
Vorwürfe über eine angebliche "SPD-Mafia" wischt Spohn
trotzdem genauso vom Tisch, wie die Kritik ehemaliger Angestellter. Die
hatten schon vor zwei Jahren zusammen mit der Gewerkschaft Verdi gegen
die Arbeitsbedingungen bei "Independent Living" protestiert. Die
Sozialarbeiter beschwerten sich über unwürdige Verträge. Sie bekämen nur
geringe Stundenzahlen garantiert, müssten sich aber bereit halten,
falls Fälle akquiriert würden. Verdi beklagte willkürliche Kündigungen
und in der Tat unterlag "Independent Living" wiederholt vor dem
Arbeitsgericht.
Dennoch konnte Spohn die Kritik bis heute wenig anhaben. Im einflussreichen Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV),
der viele freie Träger vertritt, führte er zeitweilig sogar den
Brandenburger Landesverband. Dort ist er heute noch erster
stellvertretender Verbandsratschef. Kein Wunder, dass sich "Independent
Living" an den DPWV wandte, als vor zwei Jahren öffentliche Kritik an
dem merkwürdigen Geflecht von Firmen und Vereinen laut wurde.
Persilschein der Prüfungskommission
Wie von Spohn erbeten, überprüften darauf die
DPWV-Verbände von Berlin und Brandenburg das IL-Vereinsreich. Mitglied
der vierköpfigen Prüfkommission war auch eine Managerin des
Wohlfartsverbands, die unter Spohns Führung ihren Job bekommen hatte.
Das Ergebnis der Prüfkommission kam einem Persilschein gleich. Das
verzweigte Vereinsgeflecht sei "mit Sicherheit nicht" geschaffen worden,
"um Intransparenz zu erzeugen und damit die Fantasien verschiedener
Medienvertreter anzuregen", bescheinigten die Prüfer ihrem
Verbandskollegen, "sondern um sich kaufmännisch adäquat zu verhalten".
"Keinerlei Beanstandungen" wollten die Prüfer auch daran
formulieren, dass die Independent-Living-Vereine "Dienstleistungen zu
einem großen Teil an Gesellschaften des UCR-Bereichs vergeben". Der
Vereinsverbund habe ja versichert, dass bei der Auftragsvergabe stets
Kostenvergleiche einzuholen seien.
Die Berliner Senatsverwaltung zieht diesen entlastenden
Bericht bis heute zur Verteidigung des Trägers heran. Dabei hält man im
Nachhinein selbst beim Paritätische Wohlfahrtsverband die Verquickung
von Prüfern und zu Prüfenden für "nicht so klug". Man würde das nicht
noch mal so machen.
Stern.de | Hans-Martin Tillack, Frauke Hunfeld
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