Wien. Das Wiener Jugendamt wird zuweilen gescholten, weil es Kinder nicht rechtzeitig aus gefährlichen Situationen heraushole. Doch das Problem kann sich auch haargenau umgekehrt darstellen: indem das Amt ein Kind zu früh aus einer ungefährlichen Situation holt.
Genau das ist offenbar geschehen, als das Jugendamt vor drei Jahren einer jungen Wienerin in einer Blitzaktion ihre Tochter abnahm. Dieser Tage sollte die heute 21-Jährige ihre knapp fünfjährige Tochter wiederbekommen – und die Tochter ihre leibliche Mutter. Doch just auf Antrag des Jugendamts wurde die entsprechende Entscheidung des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien im letzten Moment vom Landesgericht aufgehoben, sodass die Tochter vorerst doch bei Pflegeeltern in Graz bleibt.
Die Wienerin hatte das Kind als Schülerin zur Welt gebracht; der Vater, ein Deutscher, ist verschwunden. Das Jugendamt (MA 11) hatte ein Auge darauf, wie die Minderjährige mit ihrer Tochter umging. Als die „Mag Elf“ vermeinte, die Tochter sei sprachlich hintennach, die Mutter interagiere zu wenig mit ihr und vernachlässige sie hygienisch (Milchschorf am Kopf, schmutzige Füße), ordnete das Amt eine nähere Untersuchung an. Doch die Schülerin versäumte Termine, worauf das Amt sie zu sich zitierte und ihr das Kind abnahm.
Während die Tochter erst bei Krisen- und dann bei Dauerpflegeeltern unterkam – diese übersiedelten mit ihr nach Graz –, tobten Streitigkeiten durch die Instanzen um Besuchsrechte und Übertragung der Obsorge. Erst im vergangenen Dezember entschied das Bezirksgericht endlich: „Der Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers, ihm die Obsorge zu übertragen, wird abgewiesen.“ Nach einem neuen Sachverständigengutachten steht nämlich fest, dass die junge Mutter „sowohl erziehungsfähig als auch uneingeschränkt erziehungskompetent“ ist. Sie hat sich auch alle Mühe gegeben: den Elternführerschein gemacht, ein Praktikum in einem Kindergarten absolviert. Unabhängig davon habe laut Gutachterin „niemals eine Kindeswohlgefährdung bestanden“.
Schon auf Rückkehr vorbereitet
Die Kleine sollte also zur Mutter zurückgeführt, der Beschluss noch vor seiner Rechtskraft vollzogen werden. Am 20.Jänner wurde sie schonend darauf vorbereitet, die lieb gewonnene Pflegefamilie – samt zweiter Pflegetochter – bald zu verlassen und zur Mutter nach Wien zu kommen. Die Tochter kam offenbar gut mit dem Gedanken zurecht. Doch knapp bevor die Mutter sie auch wirklich abholen konnte – das war für vergangenen Sonntag geplant –, erging auf Antrag von Jugendamt und Pflegeeltern ein Beschluss des Landesgerichts Wien, wonach – wohl um ganz sicherzugehen – das Verfahren in erster Instanz noch einmal ergänzt werden muss.Herta Staffa, Sprecherin der MA 11, verweist auf „Presse“-Anfrage auf die Verantwortung dem Kind gegenüber hin; es wäre falsch, das Kind noch einmal aus seiner gewohnten Umgebung zu nehmen. Stephan Podiwinsky, Anwalt der Mutter, betont demgegenüber, dass es rechtlich noch immer darum gehe, die Richtigkeit der Obsorgeübertragung von der Mutter aufs Amt zu prüfen, und dass nicht bloß durch Zeitverlauf unumkehrbare Fakten geschaffen werden dürften.
Podiwinsky ist zuversichtlich, schon wegen eines formalen Fehlers des Landesgerichts mit einem außerordentlichen Revisionsrekurs zum Obersten Gerichtshof zu kommen. Und die Tochter und ihre leibliche Mutter doch noch zusammenzubringen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2012)
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