Hamburg – Neunjährige musste Pornofilme gucken
Hamburger Sozialarbeiter sollen Hinweisen nicht
nachgegangen sein. Eine Neunjährige musste wohl über Jahre Erwachsenen
beim Sex zusehen und sich Pornofilme anschauen.
Von Jens Meyer-Wellmann und Olaf Dittmann
Drei Monate nach dem
Methadontod der elfjährigen Chantal in einer Junkiefamilie in
Wilhelmsburg gibt es neue schwere Vorwürfe gegen Hamburger
Jugendhilfeeinrichtungen.
So sollen die
Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) des Bezirksamtes Wandsbek Hinweisen
auf Kindeswohlgefährdung und Missbrauch einer Neunjährigen nicht
energisch genug nachgegangen sein, die sie im Frühjahr 2010 aus dem
Umfeld der Familie erhielten.
Zweimal wurde
die damals 39 Jahre alte Mutter im Mai und im Juni 2010 ins Jugendamt
eingeladen, wie aus Briefen hervorgeht, die "WELT ONLINE" vorliegen. Als
die in Polen geborene Mutter den Aufforderungen nicht nachkam, ließ man
die Sache im Jugendamt Steilshoop auf sich beruhen, ohne weiter
nachzufassen.
Sexuelle Handlungen und Pornofilme
Erst als die
ältere Schwester der Neunjährigen sich ein Jahr später, im Juni 2011, an
ihre entfernte Verwandte, die Hamburger Journalistin Bea Swietczak,
wandte, kam Bewegung in die Sache. Swietczak informierte das Jugendamt
und schaltete auch die Hamburger Sektenbeauftragte Ursula Caberta ein –
wegen deren Erfahrung im Behördenalltag.
Kurz darauf
leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen die Mutter
der Neunjährigen und deren 47 Jahre alten afghanischen Lebensgefährten
ein. Im Juli wurde die Wohnung durchsucht. Sowohl die Mutter als auch
ihr Freund werden in dem Durchsuchungsbeschluss beschuldigt, " sexuelle
Handlungen vor einem Kind" vorgenommen zu haben.
Dem Mann wird
zudem vorgeworfen, in seiner eigenen Wohnung "sexuelle Handlungen an"
dem Kind vorgenommen und ihm Pornofilme gezeigt zu haben, in denen es zu
"sexuellen Handlungen zwischen Menschen und Tieren kommt".
Die Neunjährige
wurde im Sommer 2011 aus der Familie genommen und bei einer Pflegemutter
untergebracht. Ihre leibliche Mutter, die offenbar an einer schweren
psychischen Erkrankung leidet, wurde in einer Klinik behandelt.
Parallelen zu einem weiteren Fall
Wenig später
stieß Journalistin Swietczak auf die Schreiben des Jugendamtes vom April
und Mai 2010. Auf ihre Anfrage, warum man der Sache nicht sofort
nachgegangen sei und das Kind noch mehr als ein Jahr in der Familie
leiden musste, hieß es, man habe seinerzeit keine Hinweise auf sexuellen
Missbrauch gehabt.
Dem
widersprechen die beiden Frauen aus dem Umfeld der Familie, die im
Frühjahr 2010 die Hinweise gaben, in einer schriftlichen Erklärung. Auch
der stellvertretende Wandsbeker Bezirksamtsleiter Frank Schwippert
beteuerte aber im Gespräch mit "WELT ONLINE" es habe 2010 keine Hinweise
auf Missbrauch gegeben.
Warum man erst
zwei Briefe schreibe, die Sache dann aber auf sich beruhen lasse, konnte
Schwippert allerdings auch nicht sagen. Genauso war es 2005 gewesen,
als in Jenfeld (ebenfalls Bezirk Wandsbek) die siebenjährige Jessica
verhungert war.
Die Mutter hatte nicht reagiert, die Behörden hatten ihre Bemühungen daraufhin einfach eingestellt. Das Kind war tot.
Jugendamt hätte früher vom Missbrauch wissen können
Anstatt dem
eigenen Versagen nachzugehen, drehte man in Wandsbek den Spieß im Sommer
2011 einfach um – und untersagte der immer kritischer nachfragenden
Journalistin Swietczak den Umgang mit ihrer entfernten Verwandten, dem
neunjährigen Mädchen.
Swietczak
schrieb sogar den Bezirksamtsleiter Thomas Ritzenhoff (SPD) persönlich
an – ohne Erfolg. Schließlich erstattete sie Anzeige bei der
Staatsanwaltschaft gegen sechs Mitarbeiterinnen des Allgemeinen Sozialen
Dienstes wegen Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht – unter
ihnen die FDP-Bürgerschaftsabgeordnete Martina Kaesbach, die Amtsvormund
der Neunjährigen gewesen ist. Die Staatsanwaltschaft ermittelt unter
dem Aktenzeichen 4200 Js 946/11.
Kaesbach will sich mit Verweis auf das laufende Verfahren nicht äußern. Auch Bezirk und Sozialbehörde schweigen.
In ihrer
Anzeige wirft Swietczak den sechs Mitarbeiterinnen des Jugendamtes auch
vor, sie hätten sich schon seit vielen Jahren nicht ausreichend um den
Fall gekümmert. So habe bereits in den Jahren 2004 und 2005 der
leibliche Vater das Mädchen missbraucht.
Das Jugendamt
sei bei der Scheidung der Eltern und der Klärung des Sorgerechtes
eingeschaltet gewesen und habe über die schwierigen Verhältnisse und die
psychische Erkrankung der Mutter Bescheid wissen können, so die
Vermutung.
Komplettes Systemversagen
Swietczak
spricht mittlerweile von einem kompletten Systemversagen der
Jugendhilfe. "Ein normaler Bürger hat überhaupt keine Chance, sich beim
Jugendamt Gehör zu verschaffen", sagt sie und prophezeit: "Es wird bald
eine neue Chantal oder eine neue Lara Mia geben."
Auch die
Jugend- und Sektenbeauftragte des Senates, Ursula Caberta, sieht in
diesem neuen Fall ein erneutes Versagen der Hamburger Behörden. "Wenn
man einen Brief schreibt, hat man einen Verdacht, und wenn dann niemand
reagiert, dann muss man da gefälligst hingehen. Da geht es um das Wohl
eines Kindes", so Caberta. "Wofür ist denn das Jugendamt sonst da?"
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