13.11.12

Das tote Mädchen und der Sozialkonzern Hilfsorganisation Idepended Living

 
Zoe, 2, starb praktisch unter den Augen des Jugendamtes. Gegen die Hilfsorganisation Idepended Living (IL) wird wegen Betrugsverdachts ermittelt. Der Fall erzählt von einer Branche, die mit Steuergeld hohe Umsätze macht.

Independed Living Berlin


Wuschelhaare, Jeans, das Hemd über der Hose – Andreas Spohn gibt sich gerne locker, wenn er Besucher in seiner Unternehmenszentrale im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg empfängt. Nein, er strebe nicht nach Reichtum, versichert der 53-Jährige. Was ihn treibe, sei Idealismus.

Spohn ist der Vorsitzende des Trägerverbundes "Independent Living" (IL). Der ist seit Januar in der Kritik und das nicht zum ersten Mal. Zwei Mitarbeiterinnen hatten im Auftrag des Jugendamtes Berlin-Pankow die Mutter der zweieinhalbjährigen Zoe betreut. Das kleine Mädchen starb an einer Bauchfellentzündung, Folge eines Darmrisses durch Gewalteinwirkung.

Noch am Tag vor Zoes Tod, als das Kleinkind schon um sein Leben kämpfte, waren zwei Familienhelferinnen von "Independent Living" zu einem ausführlichen Gespräch in der Wohnung. Sie sahen, dass es dem Kind schlecht ging, aber glaubten der Mutter, dass sie zum Arzt gehen würde, obwohl sie viele Male zuvor diese Versprechungen nicht gehalten hatte. Der Geschäftsführer von "Independent Living" in Pankow spricht von einem "sehr bedauerlichen, tragischen Fall". Auch das Jugendamt verteidigt den Träger; dem sei nichts vorzuwerfen.


Steuergelder trotz Vorwürfe

Inzwischen ermittelt nach Informationen des stern die Berliner Staatsanwaltschaft im Fall Zoe gegen IL-Mitarbeiter – wenn auch nicht wegen des Kindstodes, sondern wegen des Verdachts auf Betrug. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf eine wenig bekannte Branche, die mit Steuergeld jedes Jahr hohe Umsätze macht. Mehr als 400 Millionen Euro pro Jahr reicht allein das Land Berlin für Hilfen zur Erziehung an rund 780 freie Träger weiter. "Independent Living" ist einer der Profiteure.

Mitgründer Andreas Spohn war vor dem Mauerfall kurzzeitig Offiziersschüler der Nationalen Volksarmee der DDR, dann Diplom-Erzieher und Streetworker, schließlich hat er zusammen mit Partnern in den vergangenen 20 Jahren einen der größten Sozialkonzerne der Region aufgebaut. Die in dem von ihm geführten Trägerverbund organisierten gemeinnützigen Vereine und Gesellschaften erwirtschafteten im Jahr 2010 mit um die 700 Beschäftigten einen Umsatz von rund 35 Millionen Euro. Spohns Reich erstreckt sich über Berlin, Brandenburg und zwei weitere Bundesländer. "Independent Living" bietet Familienhilfe, betreibt Wohngemeinschaften für vom Jugendamt betreute Heranwachsende, führt Kitas, ein Kinder- und Jugendtelefon sowie Jugendclubs. Und obwohl es gegen den Verbund immer wieder Vorwürfe gab, fließen die Steuergelder weiter.
Allein der IL-Verein in Pankow, der Zoe betreut hatte, verzeichnete im Jahr 2010 Umsatzerlöse von an die 1,7 Millionen Euro. Wieviel davon das örtliche Jugendamt bezahlt hat, ist selbst dessen Leiterin Judith Pfennig nach ihren eigenen Angaben unbekannt. Das sei für sie "nicht relevant". Es könnten aber gut einige hunderttausend Euro sein, räumt sie ein.


Fiktion der Selbstlosigkeit

Normalerweise müssen öffentliche Behörden Dienstleistungen ab einem Schwellenbetrag von 200.000 Euro europaweit ausschreiben. Für Sozialleistungen, wie sie Spohns Gesellschaften anbieten, gilt das nicht. Hier waltet die Fiktion vom selbstlosen gemeinnützigen Helferverein.
Diese Prämisse gilt zumindest für Spohns Sozialvereine: Als gemeinnützige Einrichtungen dürfen sie keinen Profit für die Eigentümer erwirtschaften, sondern sie müssen "selbstlos" tätig sein. Daher sind sie auch von bestimmten Steuern befreit.

Doch das edle Prinzip der Selbstlosigkeit gilt nicht für alle Aktivitäten, an denen Spohn beteiligt ist. Daneben hat der umtriebige Brandenburger über die Jahre zusammen mit einem Geschäftspartner ein zweites Firmenimperium aufgebaut, den UCR Serviceverbund. Dessen vielfach untereinander verflochtene Unternehmen arbeiten weder gemeinnützig, noch selbstlos. Doch sie leben weitgehend von den Aufträgen der gemeinnützigen IL-Gesellschaften, machen für sie Buchhaltung, Computeradministration, PR, Webdesign, Hausmeisterdienste und vieles mehr. An neun dieser Gesellschaften ist Spohn – Stand Juni 2012 – persönlich indirekt als Gesellschafter beteiligt. Er präsentiert sich also als Wohltäter, kann aber am Ende selber Gewinne abschöpfen. Was er aber nicht tue, wie er versichert.


Vernetzung mit Politik

Am Briefkasten des zentralen Berliner Firmensitzes, den sich Independent Living und UCR in Bürogemeinschaft teilen, stehen die Namen von 31 Vereinen und Gesellschaften. Spohns Vereine sind darauf angewiesen, dass die Behörden immer wieder Aufträge und Fälle vergeben. Im Geschäftsbericht eines IL-Kinderheims war vor einigen Jahren offen die Rede von Problemen mit einem "Belegungsrückgang". Zwecks besserer "Auslastung" der Wohngruppen habe man eine "Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Jugendämtern" suchen müssen.
Bei einem Berliner IL-Verein amtiert bis heute eine Frau als Vizevorsitzende, die gleichzeitig lange Jahre im Jugendamt Berlin-Mitte arbeitete. Das Amt versichert, dass die Mitarbeiterin "zu keinem Zeitpunkt" Leistungen der Hilfe zur Erziehung an Träger zu vermitteln gehabt habe. Überdies habe sie "nach der Veröffentlichung von Vorwürfen gegenüber dem Träger" in schriftlicher Form "das Ruhen" ihrer Vereinstätigkeit erklärt. Doch im Vereinsregister blieb die Sozialarbeiterin unverändert als Vizechefin aufgeführt. "Natürlich kann man das als Problem sehen", räumt Spohn heute ein. Jede Art von Vetternwirtschaft lehne er aber ab.
Es muss kein Schaden für ihn sein, dass Wohlfahrtsunternehmer Spohn selbst politisch gut vernetzt ist. In Frankfurt (Oder) führt er seit vier Jahren die SPD-Fraktion im Stadtparlament. Eine Spohn-Gesellschaft in der Oder-Stadt reklamierte gar nicht erst - wie sonst oft bei ähnlichen Vereinen üblich - parteipolitische Unabhängigkeit für sich. Sie brüstete sich jahrelang damit, "eng" mit der örtlichen SPD zusammen zu arbeiten - sowie mit einem damaligen Landtagsabgeordneten der PDS.


Verdi kritisiert willkürliche Kündigungen

Vorwürfe über eine angebliche "SPD-Mafia" wischt Spohn trotzdem genauso vom Tisch, wie die Kritik ehemaliger Angestellter. Die hatten schon vor zwei Jahren zusammen mit der Gewerkschaft Verdi gegen die Arbeitsbedingungen bei "Independent Living" protestiert. Die Sozialarbeiter beschwerten sich über unwürdige Verträge. Sie bekämen nur geringe Stundenzahlen garantiert, müssten sich aber bereit halten, falls Fälle akquiriert würden. Verdi beklagte willkürliche Kündigungen und in der Tat unterlag "Independent Living" wiederholt vor dem Arbeitsgericht.
Dennoch konnte Spohn die Kritik bis heute wenig anhaben. Im einflussreichen Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV), der viele freie Träger vertritt, führte er zeitweilig sogar den Brandenburger Landesverband. Dort ist er heute noch erster stellvertretender Verbandsratschef. Kein Wunder, dass sich "Independent Living" an den DPWV wandte, als vor zwei Jahren öffentliche Kritik an dem merkwürdigen Geflecht von Firmen und Vereinen laut wurde.


Persilschein der Prüfungskommission

Wie von Spohn erbeten, überprüften darauf die DPWV-Verbände von Berlin und Brandenburg das IL-Vereinsreich. Mitglied der vierköpfigen Prüfkommission war auch eine Managerin des Wohlfartsverbands, die unter Spohns Führung ihren Job bekommen hatte. Das Ergebnis der Prüfkommission kam einem Persilschein gleich. Das verzweigte Vereinsgeflecht sei "mit Sicherheit nicht" geschaffen worden, "um Intransparenz zu erzeugen und damit die Fantasien verschiedener Medienvertreter anzuregen", bescheinigten die Prüfer ihrem Verbandskollegen, "sondern um sich kaufmännisch adäquat zu verhalten".

"Keinerlei Beanstandungen" wollten die Prüfer auch daran formulieren, dass die Independent-Living-Vereine "Dienstleistungen zu einem großen Teil an Gesellschaften des UCR-Bereichs vergeben". Der Vereinsverbund habe ja versichert, dass bei der Auftragsvergabe stets Kostenvergleiche einzuholen seien.
Die Berliner Senatsverwaltung zieht diesen entlastenden Bericht bis heute zur Verteidigung des Trägers heran. Dabei hält man im Nachhinein selbst beim Paritätische Wohlfahrtsverband die Verquickung von Prüfern und zu Prüfenden für "nicht so klug". Man würde das nicht noch mal so machen.
Stern.de | Hans-Martin Tillack, Frauke Hunfeld
 
 
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