Nach der katholischen Kirche und den Grünen erreicht die Debatte um Verstrickungen in pädophile Netzwerke jetzt auch den Berliner Senat. Mindestens drei Jugendliche sind in der Vergangenheit mit Unterstützung der damaligen Jugendverwaltung in die Hände von pädophilen Männern gegeben worden, die nach ihrer Inhaftierung wegen sexuellen Missbrauchs als Hausmeister in Berlin arbeiteten. Das geschah nicht aus Versehen, sondern war Teil eines erzieherischen Experiments. Außerdem unterstützte die Senatsjugendverwaltung bis mindestens 1991 pädophile Projekte zur "schwulen, lesbischen und pädophilen Emanzipation".
In einem 1988 im Auftrag des Senates erstellten Gutachten zur Eignung Homosexueller als Pflegeeltern berichtet der Sexualwissenschaftler Helmut Kentler davon, wie er die Senatsverwaltung davon überzeugte, Pflegestellen bei pädophilen Männern einzurichten. "Es gelang mir, die zuständige Senatsbeamtin dafür zu gewinnen", heißt es in dem 156 Seiten umfassenden Gutachten des damaligen Hochschullehrers der Universität Hannover. "So kam es, dass bei den drei Hausmeistern regelrechte Pflegestellen eingerichtet wurden, und ich fand rasch drei Jungen, die bereit waren, hier einzuziehen. Sie waren zwischen 15 und 17 Jahre alt."
Dass es dabei zu sexuellen Übergriffen der Männer auf die Pflegekinder kam, war offenbar sogar das Ziel des Experiments. "Mir war klar, dass die drei Männer vor allem darum so viel für 'ihre Jungen' taten, weil sie mit ihnen ein sexuelles Verhältnis hatten."
Die Jugendverwaltung hat den Fall "bestürzt zur Kenntnis genommen", wie der Sprecher der Verwaltung, Ilja Koschemba sagte. "Da ist Jugendlichen offenbar im staatlichen Auftrag Unrecht geschehen." Unterlagen darüber lägen der Verwaltung nicht mehr vor. Die Verwaltung habe überlegt, einen Forschungsauftrag zu erteilen, sich aber bislang nicht dazu entschließen können. Unklar ist, welche Folgen das Gutachten in der Verwaltung hatte. Die damalige Jugendsenatorin Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP) kann sich zwar erinnern, das Gutachten in Auftrag gegeben zu haben, nicht aber an die pädosexuellen Abschnitte. "Ausgangspunkt für das Gutachten war die Frage, ob ein schwules Paar ein an Aids erkranktes Kind in Pflege nehmen durfte oder nicht", sagt Schmalz-Jacobsen heute. Warum Kentler in dem Gutachten von dem pädosexuellen Experiment berichtete, erschließt sich aus heutiger Sicht nicht.

Kein Einzelfall

Dass es sich dabei in der Jugendverwaltung nicht um einen Einzelfall handelt, zeigt der Fall einer Projektförderung. Noch 1991 hat die Verwaltung die "Adressenliste zur schwulen, lesbischen und pädophilen Emanzipation" unterstützt. Dabei handelt es sich um eine Liste aller Vereine und Gruppen, die sich bundesweit für die Belange von Schwulen, Lesben und auch Pädophilen einsetzten. Das schwule Informations- und Beratungszentrum Mann-O-Meter stellte die Liste zusammen, "mit freundlicher Unterstützung durch das Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen der Berliner Senatsverwaltung für Jugend, Frauen und Familie", wie es in der Ausgabe von 1991 heißt. Wie lange die Förderung dauerte und ob es auch finanzielle Unterstützung dafür gab, konnte in der Jugendverwaltung bislang nicht geklärt werden.
Kentlers Gutachten "Homosexuelle als Betreuungs-/Beziehungspersonen unter besonderer Berücksichtigung des Pflegekindschaftsverhältnisses" zeigt insbesondere, dass die Aufarbeitung der eigenen Verstrickung in pädophile Strukturen nicht nur ein Problem der Alternativen Liste/Grünen ist. Die Partei legte in der vergangenen Woche einen ersten Zwischenbericht zu ihrer erschreckenden als Toleranz getarnten Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Missbrauch vor. Die Netzwerke reichten offenbar bis in Senatsverwaltungen hinein - und zwar schon bevor die Alternative Liste sich am 5. Oktober 1978 gründete.
Eine systematische Aufklärung, wie sie die Grünen in der vergangenen Woche vorgelegt haben, gibt es für andere Institutionen bislang nicht. Dabei ist das Kentlers Gutachten, das die Senatsjugendverwaltung belastet, sogar öffentlich zugänglich. Ein Exemplar liegt im Schwulen Museum in der Lützowstraße. Dass es - wie darin beschrieben - offenbar mit Wissen von Senatsmitarbeitern und des Professors in Kauf genommen wurde, dass es zu sexuellen Handlungen kam. In der heutigen Zeit ein unfassbares Vorgehen. Aber es gab in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren offenbar ein Netzwerk von Pädophilen in Berlin.

Grüne Aufarbeitung

Die Falckensteinstraße, in der Fred Karst, ein Parteimitglied der Alternativen Liste, im dortigen Jugendtreffpunkt mindestens einen Missbrauch verübte und dafür verurteilt wurde, die Gräfestraße, die Adalbertstraße, die Reichenberger Straße - der Stadtplan der Pädophilie im West-Berlin der 80er-Jahre liest sich im Rückblick mit Grauen. Dass Berlin aus heutiger Sicht als die Hauptstadt der Pädo-Szene angesehen werden muss, hat damit zu tun, dass es den Tätern offenbar gelungen ist, gleich mehrere Institutionen zu unterwandern. Die Grünen arbeiten ihren Teil derzeit unter Schmerzen auf. Andere, wie der Senat, der offenbar ebenfalls über mehrere Jahre pädophilen Bestrebungen zumindest aufgeschlossen war, haben sich bislang damit schwergetan.
Währenddessen stehen die Berliner Grünen seit der Veröffentlichung ihres Zwischenberichts erschrocken vor den Ergebnissen. "Es ist doch Wahnsinn, eineinhalb Jahrzehnte darüber zu diskutieren, ob es einvernehmlichen Sex zwischen Kindern und Erwachsenen geben kann", sagt Jochen Esser, ein Gründungsmitglied der Grünen und heutiger Abgeordneter. "Das ist das, wo ich mich schuldig fühle: Nicht deutlich genug gegen die klebrige Solidarität mit der schwul-pädophilen Allianz vorgegangen zu sein." Dass hinter den Forderungen tatsächliches Handeln steckte, das habe in der Zeit niemand gefragt.
Verantwortlich dafür ist für Esser vor allem eine grüne Grundhaltung. "Für die Grünen ist heute noch schwierig zu überlegen, was Verantwortung wirklich bedeutet", so Esser. Einer knackigen Forderung, bewusst gegen den Mainstream formuliert, fehle allzu oft das Fundament, was es denn bedeutet, wenn sie tatsächlich umgesetzt wird. "Wollte damals wirklich jemand durch die Forderung nach der Abschaffung des Strafrechts, dass das Liebesverhältnis zwischen einem Lehrer und einer Schülerin legalisiert wurde?", fragt Esser. "Auch wenn es das eigene Kind gewesen wäre?" Esser schüttelt den Kopf. Es sei ihnen viel zu spät gelungen zu sagen: "Das ist ein Verbrechen, das zu Recht im Gesetz steht."

Lange weggeschaut

Auch die langjährige Berliner Fraktionschefin Renate Künast kann sich im Rückblick die Tatenlosigkeit gegenüber der pädophilen Unterwanderung eines Teils der Partei nicht so recht erklären. "Wir lebten in einem Wolkenkuckucksheim", sagt Künast heute. Die Alternative Liste hätte sich ausdrücklich nicht als Partei verstanden, sondern als Plattform und Bühne für viele politische, ökologische und soziale Strömungen. "Wir dachten, es sei modern, Krusten aufzubrechen, dabei haben wir aber vergessen, klare Tabus festzulegen."
So sei es den Pädophilen gelungen, sich in der Partei zu etablieren. Künast erinnert sich an ewig lange "Elendsdebatten" auf Parteitagen, an deren Ende oft faule Kompromisse gestanden hätten. Für die allermeisten in der Alternativen Liste sei das Thema sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern damit erledigt gewesen. An die in dem Bericht genannten Hauptaktivisten der pädophilen Grünen, Fred Karst, Kurt Hartmann und Dieter Ullmann hat sie keine Erinnerung. Auch später arbeitete die heute berüchtigte "AG alt und jung" weitgehend im Verborgenen. Hier liegt auch nach dem Zwischenbericht der Kommission zur Aufarbeitung der Verstrickung der Grünen weiterhin die größte Blackbox verborgen.
Aus heutiger Sicht ist es Künast unbegreiflich, dass sich die Partei zwar schon früh intensiv mit Gewalt im sozialen Nahraum beschäftigt hat, beim Thema Pädophilie aber lange weggeschaut hat. "Mich ärgert, dass wir und auch ich nicht früher klar gesehen haben, dass es sich um Kinder handelt, die ohne Diskussion unsere Bereitschaft zu absolutem Schutz brauchen." Auch als die Kreuzberger Frauen der Grünen aufbegehrt hätten, dass Leute, die bei den Grünen aktiv seien, sich auch in der Kreuzberger und Weddinger Pädophilenszene trafen, äußerte sich kein innerer Widerstand.
Aber auch von außen interessierte sich niemand dafür. "Wir wurden wegen vielen Dingen gebasht - für die Busspuren, die Kritik am Nato-Doppelbeschluss und der Forderung nach einer autofreien Innenstadt - für das pädophile Treiben in der Partei aber nicht", so Künast. Der Prozess habe erst spät eingesetzt, beim Wiederaufleben der pädophilen Gruppe bei den Grünen. Immerhin habe es die Partei dann geschafft, sich über Jahre von innen zu verändern und sich klar davon zu distanzieren.

Grenzen setzen

Als Lehre aus dieser Zeit sieht Künast die Konsequenz, sich nicht ziellosen Debatten zu ergeben, sondern klare Positionen festzulegen, die nicht verhandelbar sind. "Wir haben uns um alles gekümmert, aber es gab keine Bereitschaft, nach innen klare Grenzen zu setzen."
Den Ruf West-Berlins als pädophiler Hotspot unterstrich zudem das intellektuelle Klima. Die Pädagogische Hochschule und das Pädagogische Zentrum in Berlin waren Anlaufstellen für Wissenschaftler, die unter dem Deckmantel der sexuellen Befreiung pädosexuelle Handlungen nicht grundsätzlich verurteilten. Neben Helmut Kentler, der von 1966 bis 1974 in Berlin arbeitete - und für seine Untersuchungen zeitweise jugendliche Stricher bei sich aufnahm, wie er in seinem Gutachten freimütig zugab - gilt auch der Erziehungswissenschaftler Reinhart Wolff als Forscher, der Kinderliebe tolerierte, wenn nicht sogar propagierte. Diese linksintellektuelle Szene lieferte den theoretischen Überbau für das damalige Pädo-Milieu. Und fand im alternativen Kreuzberg eine ideale Nische. Im Streit zwischen Grünen Kreuzbergerinnen, die sich gegen das Treiben wandten, und den Pädophilen wurde schließlich mit Wolfgang Wieland ein Schlichter eingeschaltet. Er scheiterte aber. Auch er fragt sich im Rückblick, warum er nicht spätestens danach deutliche Worte gegen das Pädo-Treiben fand. "Ich werfe mir selber vor, die Sache nicht ernst genommen zu haben", sagt Wieland heute. "Wir waren auch dumm und naiv, was die Schäden bei den Opfern angeht."
Vieles spricht dafür, dass die pädophilen Netzwerke weiter bestehen. Ihr langjähriger Wortführer bei den Grünen, Kurt Hartmann, wechselte zunächst zur Linkspartei nach Brandenburg, wo er noch 2009 Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Sexualstrafrecht war.
Vor diesem Hintergrund wirkt das Schlusswort des Sexualwissenschaftlers Kentler in seinem im Auftrag des Senates erstellten Gutachten besonders perfide. "Ihren Ruf als Vorposten der Freiheit und Menschlichkeit muss die Bevölkerung Berlins und ihre politische Führung auch in dieser Sache bestätigen und bewahren", heißt es abschließend.