Ein Jahr Wiener Heimskandal, und noch immer melden sich Betroffene.
20 ehemalige Heimkinder aus ganz Österreich geben Einblick in ihr Leben.
Viel wurde vor einem Jahr in der
KURIER-Redaktion debattiert, ob man den Lesern eine solch schreckliche
Story zum Sonntagsfrühstück auftischen kann. Die Redaktionskonferenz
befand schließlich:
Ja. Und brachte die Aufdeckung eines der größten
Skandale der vergangenen Jahrzehnte ins Rollen.
Der KURIER-Bericht "Das Kinderheim des Grauens" löste damals eine
Welle der Empörung aus. Zwei Schwestern, die in den 1970er-Jahren ihre
Kindheit im Schloss Wilhelminenberg, damals Kinderheim der Stadt Wien,
verbracht hatten, schockierten die Öffentlichkeit. Von Prügeln,
folterähnlichen Zuständen, menschenverachtendem Umgang mit Kindern und
von Serienvergewaltigungen junger Mädchen erzählten die zwei Frauen.
Synonym
"Der Wilhelminenberg" ist seither das Synonym für die unmenschlichen
Erziehungsmethoden, die von den 1940er- bis in die 1980er-Jahre in
vielen Wiener Heimen an der Tagesordnung gestanden sind.
Der W’Berg, wie die Erziehungsanstalt im Heimkinder-Jargon genannt
worden ist, kein Einzelfall. Und das Erschreckende: Alle ehemaligen
Heimkinder, die sich bisher bei der Opferschutz-Organisation Weisser
Ring gemeldet haben, berichten von physischer und psychischer Gewalt.
Knapp die Hälfte von sexuellem Missbrauch.
343 ehemalige Heimkinder hatten sich bis zum Erscheinen des
Interviews der beiden Schwestern im KURIER an den Weissen Ring gewandt,
der die Abwicklung von Entschädigungszahlungen und Therapiestunden für
die Gemeinde Wien organisiert. Binnen eines Jahres ist die Zahl auf
1340 gestiegen. Der Autor und Journalist Hans Weiss schätzt in seinem im
September 2012 erschienenen Buch "Tatort Kinderheim" (Verlag Deuticke),
dass von der Nachkriegszeit bis in die 1990er-Jahre österreichweit
100.000 Kinder in öffentlichen und kirchlichen Heimen erzogen worden
sind.
Katastrophe
Wem das Ausmaß der österreichischen Heimerziehung bis dato nicht klar
war, wurde im Juni 2012 aufgeklärt. Der Sozialhistoriker Reinhard
Sieder bezeichnete die systematische Erniedrigung von
Fürsorge-Zöglingen als "eine historische Katastrophe von unfassbarem
Ausmaß". Sieder hat die Geschichte der Wiener Kinderheime im Auftrag der
Stadt Wien aufgearbeitet.
20 ehemalige Heimkinder aus ganz Österreich berichten auf diesen
Seiten über ihr Leiden im Heim und ihr Leben danach. Manche landeten im
Häf’n oder in der Prostitution. Einige schafften es, sich aus dem Sumpf
wieder zu befreien. Viele von ihnen lassen sich von Psychotherapeuten
behandeln. Sie leiden noch immer an der Zeit im Kinderheim.
Kritiker merken immer wieder an, dass vor allem der zentrale Vorwurf
der Serienvergewaltigungen bis heute nicht bewiesen ist. Beweise für vor
30, 40, 50 Jahre zurückliegende Sexualverbrechen zu finden, ist nahezu
unmöglich. Beim KURIER haben sich jedoch weitere Zeuginnen vom
Wilhelminenberg gemeldet.
Mehr darüber und über einen Syphilis-Fall am Wilhelminenberg lesen Sie am Sonntag im KURIER.
Letztes Update am
19.10.2012, 21:33
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