11.10.2012 | 18:21 |
PHILIPP AICHINGER (Die Presse)
Juristen
sehen im neuen Sorgerecht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen
SPÖ und ÖVP. Das Gesetz könnte Eltern ihre Aufgaben aber besser bewusst
machen.
Nicht nur am Wochenende, auch im Alltag würden Väter sich durch das neue Kontaktrecht stärker einbringen können, meint Astrid Deixler-Hübner, Professorin an der Uni Linz. „Der Vater kann das Kind zur Schule bringen oder mit ihm am Nachmittag lernen“, sagt die Familienrechtsexpertin im Gespräch mit der „Presse“. Das gelte für Väter mit und ohne Sorgerecht, sofern ihr Einsatz im Alltag gut für das Kind ist. In der Praxis werde es freilich sehr den Richtern überlassen bleiben, wie sie das neue Recht auslegen. Deixler-Hübner glaubt aber an eine positive „Bewusstseinsbildung“ durch das neue Gesetz.
Gut sei zudem, dass Österreich nun Gerichtsurteilen nachkommt und ledigen Vätern ihre Rechte einräumt.
Insgesamt ist die Professorin aber „ein bisschen enttäuscht“ vom Entwurf. Das Ergebnis sei nur der „kleinste gemeinsame Nenner“ zwischen SPÖ und ÖVP. So kritisiert Deixler-Hübner, dass keine Möglichkeit geschaffen wurde, eine Doppelresidenz für das Kind (Wohnsitz bei Mutter und Vater) zu vereinbaren. Deixler-Hübner vermisst zudem klarere gesetzliche Regelungen für die Höhe des Unterhalts. Diesen muss nun weiterhin das Gericht nach seinem Ermessen festlegen.
Neu eingeführt wird eine sechsmonatige Testphase bei strittigen Scheidungen. Danach soll der Richter das Sorgerecht entweder einem Elternteil allein oder beiden Expartnern zusprechen können. Bisher war eine gemeinsame Obsorge nur möglich, wenn die Expartner sich selbst darauf verständigten. Für Anwältin Andrea Wukovits ist die Sechsmonats-Frist zu kurz für eine Abkühlungsphase nach Rosenkriegen. „Mindestens ein Jahr“ sollte diese dauern, fordert die Wiener Advokatin. Eine Doppelresidenz für das Kind hält sie für weniger sinnvoll, überhaupt sieht sie in dem Entwurf eine „ausgeglichene Regelung“. Kopfzerbrechen bereiten ihr aber die neuen Rechte für die Familiengerichtshilfe. Diese dürfe „Personen, die über die Lebensumstände eines minderjährigen Kindes Auskünfte erteilen können“ laden und befragen. Diese Kontrolle könne die „Privatsphäre gefährden“, warnt die Anwältin. Man solle nicht vergessen, dass Erziehung Privatsache ist. Und diese neuen Kontrollmaßnahmen könnten künftig jeden Bürger treffen, der sich scheiden lässt und über die Kinder nicht gleich eine Einigung erzielt.
„Justizministerin hat sich erpressen lassen“
Anwalt Alfred Kriegler ist vom Gesetzesentwurf sogar „sehr enttäuscht“. Man hätte beim alten Entwurf bleiben sollen, wonach es nach einer Scheidung grundsätzlich immer eine gemeinsame Obsorge gibt. Das neue Modell führe zu einem „gigantischen Mehraufwand“ bei Gericht, konstatiert Kriegler. „Die Justizministerin hat sich von der Blockadepolitik der Frauenministerin erpressen lassen“, meint der Wiener Advokat. Man solle die Themen Scheidung und Kinder ganz trennen, fordert er. Nur so könne man sicherstellen, dass in der Praxis niemand überhöhte Alimente an den Ex-Partner zahlen soll, weil er sonst sein Kind nicht geregelt sehen darf. Die Doppelresidenz wäre sinnvoll.Die Richter warnen vor längeren Verfahren. Die Opposition ist unzufrieden. Die Grünen sind dagegen, dass Richter eine gemeinsame Obsorge verordnen können, das BZÖ sieht die Chance auf gemeinsame Obsorge als Regelfall vertan, die FPÖ ortet nur eine halbe Reform. Skeptisch zeigten sich auch Männer- und Frauenorganisationen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2012)
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