22.06.15

Betroffene über ihre Zeit im Friesenhof-Heim „Ich durfte nicht weinen“


Lea-Marie aus Lüneburg war im Mädchenheim Nana des Friesenhofs, das das Landesjugendamt im Juni schloss. Sie berichtet von Mobbing.
Das Friesenhof-Heim
Hier sollen Erzieher gemobbt haben: Mädchenheim Friesenhof.  Foto: dpa


taz: Lea-Marie, Sie waren 2011 neun Monate im Friesenhof. Wie kamen Sie dorthin?
Lea-Marie: Ich hatte Angst, in die Schule zu gehen, weil ich gemobbt wurde. Das ging mit 14 los. Ich war zeitweise krankgeschrieben, es wurden verschiedene Sachen versucht. Da meinte das Jugendamt, sie hätten das perfekte Heim.

Den Friesenhof.
Genau. Ich bin dann mit meinen Eltern zum Haupthaus nach Büsum gefahren. Wir durften uns das Heim in Wrohm nicht selber ansehen, sprachen da nur mit dem stellvertretenden Leiter. Da hat er angefangen, mich zu mobben. Meine Eltern dachten auch schon, oh Gott. Aber das Jugendamt sagte: Das Heim ist toll, da muss sie hin. Das wollte ich nicht.

Was heißt, er mobbte?
Er hat mich runtergemacht. Du bist aber traurig. Guck mal deine Schminke an. Das brauchst du gar nicht. „Trauriger Clown“.

Also unpassend?
Ja. Immer so im Hinterhalt. Wenn meine Eltern mit dem Mann vom Jugendamt sprachen, hat er mich so provoziert. Ich dachte nur: Schnell hier raus.

20, war seit Mai 2011 neun Monate nacheinander in den Mädchenheimen Nana und Charlottenhof des Friesenhofs. Heute lernt sie für den Realschulabschluss und lebt in Lüneburg.

Das Heim sahen Sie gar nicht?
Er meinte, das ginge nicht. Das wäre abgeschlossen. Das würden wir gar nicht finden. Es wäre alles in Ordnung da. Ich sagte, ich will da nicht hin. Aber das Jugendamt sagte meinen Eltern, sie hätten keine Wahl. Ihnen würde sonst das Sorgerecht entzogen und sie sehen mich nie wieder.

Und dann?
Ich wollte da nicht bleiben und wir fuhren wieder nach Hause. So konnte ich mich wenigstens von meinem Pferd verabschieden. Am nächsten Morgen standen zwei Menschen im Flur, die mich mit einem Kleinbus abholen wollten. Die haben mich angeschrien: „Du kommst jetzt sofort mit. Du brauchst dich nicht schminken. Dein Handy brauchst du auch nicht!“ Ich hab so geheult. Meine Mutter hat geheult. Das war Wahnsinn.

Wie war die Ankunft im Heim?
Mir wurden sofort die Schuhe genommen. Ich könnte sonst weglaufen. Die haben mich gefilzt und mir alles weggenommen. Die Musik, Sachen von zu Hause.

Hatten Sie ein Kontaktverbot?
Ja. Zwölf Wochen. Briefe schreiben an die Eltern durfte ich. Aber die wurden kontrolliert. Deshalb kamen die meisten nicht an.

Was haben Sie geschrieben?
Am Anfang, dass es mir schlecht geht, dass ich raus möchte, dass die unmenschlich sind.

Warum ging es Ihnen schlecht?
Die Betreuer haben einen nur runtergemacht, schikaniert, ausgelacht, gemobbt, gehetzt. Das war Psychoterror. Es kam drauf an, wer da war. Es gab Frühsport jeden Tag. Und Strafsport nach Bedarf. Liegestützen …

Liegestützen kann ja nicht jeder.
So lange, bis sie können. An meinem ersten Tag hab ich gesagt, ich will hier weg, ihr seid Scheiße. Dafür gab es sofort Strafsport. Und ich konnte keine zehn Liegestützen. Am Ende musste ich 50 machen. Immer, wenn ich eingeknickt bin, haben alle von vorne angefangen. Die Mädchen durften mich anschreien und hetzen. Das war grauselig.

Wie wurde das begründet?
Gar nicht. Es hieß nur: Mach einfach, mach. Die Mädchen waren manipuliert und abgestumpft. Nur eine, die neu da war, war mitfühlender und sagte: „Mach das einfach. Weigern bringt nichts.“

Hatten Sie Schulunterricht?
Nur intern. Wir haben eine Zeitung gekriegt und mussten einen Artikel wiedergeben. Vorlesen. Bisschen Mathe, bisschen Basteln. Das war im Haus, wir kamen nicht raus.

Auch nicht in den Garten?
Nicht alleine. Wir durften wenn, dann nur alle zusammen raus. Die Betreuer entschieden. Wenn rausgehen, dann alle raus, wenn nicht, bleiben alle drin.

Was war „Strafsport“?
Es hieß „Sport machen, bis du kotzt“. Die wurden kreativ. Liegestützen, Laufen, Sit-ups, an der Wand hocken, als würde man auf dem Stuhl sitzen. Einer rennt 20 Runden in der Mitte, solange müssen die anderen knien. Das schmerzt in den Beinen.

Wie ging der Tag weiter?
Nach dem Frühstück hatte man Dienste. Bad putzen zum Beispiel. Man hatte für alles eine Stunde, also Amt, Zimmer aufräumen und Duschen. War man nicht rechtzeitig fertig, gab es Strafe für alle. Zumindest durften die, die geraucht haben, nicht rauchen. Ich hab nicht geraucht. Aber dann wurde man kurz allein gelassen mit denen, die nicht rauchen durften. Dann durfte man angefasst werden. Wenn die einem aufs Maul hauen, hat das keiner gesehen.

Wie viele Betreuer waren da?
Zwei, manchmal drei.

Nach der Schule gab es Mittag?
Ja, nicht immer. Manchmal mussten wir Aussitzen.

Was bedeutet das?
Sitzen. Sitzen und aushalten. Mein längstes war 19 Stunden. Ich kam aus dem Bad und hatte geweint, weil ich Heimweh hatte. Ich durfte nicht weinen, auch nicht traurig gucken. Dann gab es Aussitzen. Ich sollte erzählen, warum ich weine. Ich habs erzählt, aber das passte denen nicht. Du musstest das Wort finden, dass sie hören will. Dass du frech bist und blöd und scheiße.

Was hieß das ganz konkret?
Alle Mädchen mussten sitzenbleiben. Keiner darf rauchen, keiner darf essen, aufs Klo auch nur zu zweit und wenn es dringend war. Das ging bis in die Nacht.

Saßt ihr dabei im Kreis?
Wo man gerade war. Das ging, bis sie zufrieden waren. Oder keinen Bock mehr hatten. Das längste, was ich miterlebte wegen eines anderen Mädchens, waren 24 Stunden.

Was war mit Schlafen?
Nö. Wenn man müde wurde, gab es Strafsport.

Wie sah der Nachmittag aus?
Wir waren nie allein. Die haben irgendwas bestimmt und das wurde gemacht.

Auf der Homepage steht, es gab ein auswärtiges Fitnessstudio.
Ja, mal für ne Stunde. Das war auch blöd. Wir mussten graue Sachen tragen. Die Leute könnten dich ansehen. Die Betreuer standen daneben, als wären sie Türsteher. Du durftest da nichts machen außer Sport. Aufs Klo durftest du nicht alleine. Mit einer Betreuerin mussten wir Bilder malen. Ich habs komplett schwarz gemalt. Aussitzen, Strafsport. Ich durfte nicht traurig sein.

Mussten Sie sich ausziehen?
Ja, einmal im Büro vor zwei Frauen. Die haben sich so gefreut darüber. Das Bücken war die Härte.

Und mit welcher Begründung?
Ich hab gefragt. Man hat es nicht gesagt. Strafsport angedroht. Dann macht man das lieber mal.

Es heißt, dass waren Kontrollen auf Drogen oder Waffen.
Nein. Die haben mich nicht abgesucht. Das war lustig für die. Die hatten keinen Grund und ich hatte auch nie mit Drogen zu tun.

Hätten Sie sich geweigert, hätten Sie Sport machen müssen?
Alle Mädchen.

Aber die waren nicht dabei?
Du wurdest zum Strafsport dazugerufen, auch nachts. Da hieß es „auf die Tenne“, und alle mussten Sport machen. Einmal hab ich im Schlaf ein Glas vom Nachttisch gehauen. Da mussten alle aufstehen wegen mir.

Wie lief das mit dem Essen?
Einmal wurde ich gezwungen. Da gab es Suppe mit Fleisch, was ich nicht mochte. Das war wieder dieses Gruppending. Wir sitzen so lange, bis du isst. Keiner darf rauchen. Es wird dann die ganze Gruppe bestraft? Die machen Druck, weil sie wissen, die Gruppe geht dann gegen einzelne vor.

Gab es für Sie Ziele, die Sie mit denen vereinbart haben?
Nee. Die hatten Ziele.

Haben die sie Ihnen genannt?
Das habe ich mir erraten, irgendwann. Ich hab mich verstellt, immer nur gegrinst. Dabei hätte ich heulen können. Aber so kam ich nach fünf Monaten aus Wrohm raus. Die Betreuerin meinte, dass es ihr Ziel ist, unseren Willen zu brechen und so aufzubauen, wie die Gesellschaft uns gerne hätte. Und dass sie all das pädagogisch begründen können.

Sie kamen dann in den „Charlottenhof“. Wie war dieses Heim?
Scheiße. Die haben sich da nicht so 24 Stunden um einen gewickelt, aber waren auch grausam.

Gab es die gleichen Regeln?
Nein. Du durftest ums Haus gehen. Da konnte man raus, wenn man es sich verdient hatte. Ich hab das kaum geschafft.

War es gut in der Schule?
Nee. Ich musste ewig lange fahren mit dem Bus. Ich hätte davon auch keinen Abschluss gekriegt.

Waren Sie dort bekannt?
Überall hieß es: schlimme Mädchen, kriminell, Abstand halten.

Wann hatten Sie das erste Mal Kontakt zu Ihren Eltern?
Nach zwölf Wochen erst nur telefonisch. Unter Beobachtung mit der Hand am Telefonkabel. Ich durfte nur Positives sagen. Erst nach drei Monaten beim Hilfeplangespräch in der Stadt konnte ich mit ihnen allein reden. Sie sagten, sie könnten nichts tun.

War das Jugendamt dabei?
Ja. Aber der hat da nur gesessen. Der meinte: „Na, du hast dich ja so toll gemacht.“ Den Mann konntest du vergessen. Beim zweiten Hilfeplangespräch hatte ich eine andere vom Jugendamt. Die habe ich alleine gesprochen. Ich hab ihr alles beschrieben und gesagt: Ich will zurück nach Lüneburg, ich geh da auch zur Schule, ich verspreche es, Hauptsache woanders hin. Die hat nur gelächelt und meinte, das geht nicht.

Wie kamen Sie schließlich raus?
Ich habe Blut gespuckt, weil ich mich immer so aufgeregt hab. Dann kam ich ins Krankenhaus. Da hat sich eine Ärztin meiner angenommen. Die meinte beim letzten Termin, sie gibt mich nicht wieder hin.

Der konnten Sie was erzählen?
Ich hab der alles erzählt. Ich war ja da über Nacht. Das war toll.

Was hatten Sie medizinisch?
Stress-Symptome. Meine Eltern haben mich dann abgeholt.

Wie ging es mit Ihnen weiter?
Ich hab versucht, Schule anzufangen. Das ging nicht. Ich bin immer wieder zusammengebrochen, weil das Erlebte tief saß. Es hat zwei Jahre gedauert, bis ich wieder normal irgendwas tun konnte. Ich konnte gar nicht mehr rausgehen auf die Straße. Ich hatte richtig Angst vor Menschen.

Vorher hatten Sie die nicht?
Nein. Ich kam da normal rein. Mit Problemen, aber dem Glauben, ich bin jemand.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen