Erstellt 28.06.2012
An der Wohnungstür, hinter der sich die Familientragödie in Leipzig
ereignet hat,
haben Nachbarn Plüschtiere und Blumen aufgestellt. Foto:
dapd
Yvonne F. wollte weg. Raus aus Leipzig, aus
ihrem alten Leben. Neu anfangen, anderswo. Sie hätte es schaffen können,
glaubt Stephan Frühauf (Name geändert), ihr ehemaliger Nachbar: „Ihr
neuer Freund hat ihr gutgetan. Sie ist richtig aufgeblüht.“
Yvonne
F. hätte es schaffen können. Das meint offenbar auch der Mitarbeiter
des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) des Leipziger Jugendamtes, der
am 10. April dieses Jahres den letzten Kontakt zu der 26-Jährigen und
ihrem zweijährigen Sohn Marcel hat. Beim Termin im Amt erzählt die
junge Frau, über Jahre wegen ihrer Drogenabhängigkeit immer wieder in
Behandlung, sie wolle wegziehen. Auch ihr neuer Lebensgefährte ist
dabei. Der Betreuer lässt sich noch dessen Handy-Nummer geben. Man weiß
ja nie. Er notiert, Yvonne F. und ihr Kind seien in guter Verfassung,
psychisch wie physisch. Hinweise auf Gefährdung des Kindeswohls, wie das
im Amtsdeutsch heißt: keine. Und damit kein Anlass für den ASD, den
Kontakt weiter aufrechtzuerhalten.
Eine
Entscheidung mit tödlichen Folgen: In der Nacht zum 17. Juni finden
Polizeibeamte die Leichen der 26-Jährigen und ihres Kindes in deren
Wohnung in Leipzig-Gohlis. Die Todesursachen sind noch unklar, der
Junge aber ist vermutlich verdurstet.
Der
Sozialarbeiter, der die kleine Familie an jenem Apriltag zum letzten
Mal sieht, sei ein erfahrener Mann, sagt Siegfried Haller, er habe die
Frau lange betreut. Von einem Fehler seines Mitarbeiters mag der Leiter
des Leipziger Jugendamtes nicht sprechen: „Ich will niemanden
vorverurteilen.“ Es werde geprüft, wie der Mann zu seiner Einschätzung
kam, ob, so formuliert Haller es gewunden, „unsere Standards hier
möglicherweise unterschritten wurden“.
Vertrag mit Tagesmutter gekündigt
Dabei
hätte der ASD spätestens am 10. April alarmiert sein können: In dem
Gespräch erklärt Yvonne F., sie habe den Vertrag mit einer Tagesmutter
für die Betreuung ihres Kindes wieder gekündigt - entgegen einer
Vereinbarung mit dem Amt. Schon in den Wochen davor wird der
Sozialdienst mehrmals verständigt - von der Suchtberatung, der
Arbeitsagentur. So bricht die Frau Ende 2011 den Kontakt zu ihrer
Suchtberaterin und ihrer behandelnden Ärztin ab. Im Februar müssen
Polizei und Notarzt zur Wohnung der Hartz-IV-Empfängerin ausrücken. Was
dort genau vorgefallen ist, ist nicht aktenkundig im Jugendamt. Doch das
Ergebnis ist dasselbe wie in den anderen Fällen auch: Stets erkennen
die Sozialarbeiter keine Anzeichen dafür, dass das Kind gefährdet sei.
Dabei muss Yvonne F. im Januar, obwohl in ärztlicher Behandlung, noch
einmal rückfällig geworden sein - das belegt laut Jugendamt ein
positiver Drogentest.
Die Drogenkarriere der jungen
Frau beginnt, als sie 16 ist. Sie macht mehrere Therapien. Sie schafft
den Abschluss der 10. Klasse, beginnt eine Ausbildung zur Bürokauffrau.
Ob sie die Lehre abschließt, geht aus den städitschen Akten nicht
hervor. Auch bei der Polizei ist Yvonne F. bekannt - Diebstahl,
Schwarzfahren. 2009 ziehen die Ermittler deshalb den ASD hinzu. Nachdem
sie entbunden hat, absolviert die junge Mutter 2010 eine Therapie im
Erzgebirge - erfolgreich. Alles scheint gut zu laufen. Bis sie Ende
vergangenen Jahres den Kontakt zur Suchtberatung abbricht.
Hat
Yvonne F. alle getäuscht? Auch Nachbarn beschreiben die 26-Jährige als
aufmerksame Mutter, die sich liebevoll um ihr Kind gekümmert habe.
„Natürlich hat der Kleine mal geschrien“, sagt Stephan Frühauf. Doch
wenn mit Marcel etwas nicht gestimmt hätte, ihm und seiner Frau hätte
das doch auffallen müssen. Schließlich haben sie manchmal aufgepasst auf
den Jungen. Wenn die Mutter einkaufen gegangen ist. Was Nachbar
Frühauf erzählt, klingt nach Stabilität. Manchmal schnorrte sie
Zigaretten bei ihm. Manchmal hielten sie einen Schwatz im Treppenhaus.
Keine Antwort vom Amt
Trotzdem
hat auch Stephan Frühauf sich irgendwann ans Jugendamt gewandt. Er hat
lange überlegt vorher: Nehmen sie ihr dann das Kind weg? „Dann wäre sie
wieder eine Stufe runtergefallen.“ Dennoch hat er schließlich einen
Brief geschrieben, im April war das. Er hat vorgeschlagen, dass Yvonne
F. einen Betreuer bekommen soll. Ihre Drogenkarriere war kein Geheimnis
im Haus: „Manchmal“, sagt er, „wenn sie auf Entzug war, hatte sie so
einen Putzfimmel.“ Da hat er gedacht: Diese Frau braucht Hilfe. Eine
Antwort bekommen hat er vom Amt nie, sagt er.
Ein
paar Wochen vor ihrem Tod hat Stephan Frühauf Yvonne F. und ihren
Sohn zum letzten Mal gesehen. Die kleine Familie packte Spielzeug in ein
Auto, erinnert sich der Nachbar. „Da dachten wir schon, bald ziehen sie
wohl um.“
In der Nacht zum 17. Juni ist der Verwesungsgeruch aus der Wohnung so stark, dass Nachbarn die Polizei rufen.
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