In den Ermittlungen zum Methadon-Tod Chantals sind Pfleegeltern und
Sozialarbeiter im Visier. Einblicke in die Akten enthüllen neue Details
über das Vorleben der Pflegeeltern. Von Jens Meyer-Wellmann
Fünfeinhalb
Monate nach dem Methadon-Tod der elfjährigen Chantal in einer
Pflegefamilie in Hamburg-Wilhelmsburg wird eine Anklageerhebung wegen
fahrlässiger Tötung gegen die drogenabhängigen Pflegeeltern immer
wahrscheinlicher.
Auch fünf
Mitarbeiter des Jugendamtes Mitte und eine Mitarbeiterin des freien
Trägers VSE könnten schon bald wegen Verletzung der Fürsorgepflicht
angeklagt werden. Das berichtete ein Vertreter der Staatsanwaltschaft
nach Informationen von "Welt Online" in der vertraulichen Sitzung des
Sonderausschusses Chantal.
Geprüft wird
zudem die Aufnahme von Ermittlungen gegen den Hausarzt der Pflegeeltern.
Dabei geht es um einen möglichen Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz.
In der Garage der Pflegefamilie waren 31 Methadon-Tabletten gefunden
worden.
Ersatzdroge nur in Arztpraxis einnehmen
Nach den
gesetzlichen Regelungen darf die Ersatzdroge aber nur in der Arztpraxis
eingenommen oder bei stabilen Patienten in einer maximal für sieben Tage
reichenden Ration verschrieben werden. Chantal war am Abend des 16.
Januar 2012 an einer Methadonvergiftung gestorben.
Unterdessen sind
weitere schockierende Details aus dem Vorleben der Pflegefamilie
bekannt geworden, in die das Jugendamt Chantal 2008 gab. So soll die
Pflegemutter Sylvia L. bereits seit 1986 drogenabhängig und seit 1992 im
Methadonprogramm gewesen sein.
Ihr wurde auch
vorgeworfen, eine Scheinehe mit einem Ausländer geführt zu haben, um
diesem einen Aufenthalt in Deutschland zu ermöglichen. Das berichtet
"Bild" unter Bezug auf nicht veröffentlichte Teile des Berichts der
Innenrevision, die den Fall ausgiebig untersucht hat. Danach soll die
leibliche Tochter von Sylvia L. sich im ebenfalls im Drogen- und auch im
Prostitutionsmilieu bewegt haben.
Pflegevater war zu Freiheitsstrafen verurteilt
Über den
Pflegevater Wolfgang A. (51) war demnach bekannt, dass er bereits wegen
unterschiedlicher Delikte zu Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und
vier Jahren verurteilt gewesen sei. Zudem habe es sechs Einträge in
seinem Führungszeugnis gegeben, etwa wegen schweren Raubes, Diebstahls,
Drogenhandels und Körperverletzung.
"Dem Jugendamt
waren die Familienverhältnisse, die Drogenabhängigkeit der Pflegeeltern,
der Wohnungszustand, die Arbeitssituation (…) bekannt", heißt es in dem
auch im Internet einsehbaren, teilweise geschwärzten Bericht der
Innenrevision (IR). Dabei habe es etwa deutliche Hinweise darauf
gegeben, dass es für Chantal in der Familie kein eigenes Bett und keine
eigene Spielecke gegeben habe.
"Insbesondere
ist der IR nicht erklärbar, warum selbst fachkompetenten Hinweisen
Dritter nicht nachgegangen wird", so der Bericht, der zu folgendem Fazit
kommt: "Aufgrund der (…) bekannten schwierigen Lebensumstände der
Pflegefamilie und zusätzlich der mangelbehafteten Eignungsprüfung und
Betreuung hätte diese Pflegefamilie nach vorliegender Aktenlage keine
Pflegekinder dauerhaft aufnehmen dürfen. Eine Überforderung der
Pflegeeltern und eine Vernachlässigung der Pflegekinder waren den
Beteiligten des Jugendamtes durch interne wie externe Hinweise bekannt."
Schlampige Aktenführung unterschiedlicher Behörden
Dabei sehen die
Autoren dieses ersten Untersuchungsberichtes nicht etwa Schwächen bei
den 2005 verschärften gesetzlichen Regeln. Diese seien aber im Fall
Chantal nicht ordnungsgemäß angewandt worden. Das lag offenkundig vor
allem an der schlampigen Aktenführung in den unterschiedlichen Behörden.
Schon bei der Eignungsprüfung der Pflegeeltern seien die Akten
unvollständig gewesen, rügt der Bericht. Und noch 14 Tage nach Chantals
Tod sei man im Bezirksamt Mitte nicht in der Lage gewesen "eine
vollständige Aktenlage herzustellen".
Den Eindruck,
dass Chantal sterben musste, weil die bestehenden sinnvollen Regeln
schlicht nicht angewandt wurden, teilen auch die Abgeordneten des
Sonderausschusses, der in der vergangenen Woche seine Arbeit aufgenommen
hat. "Die Vorschriften wurden nicht beachtet", sagt die
Grünen-Jugendpolitikerin Christiane Blömeke. "Es gab eklatantes
Fehlverhalten, völlig falsche Einschätzungen und absolutes Versagen
mehrerer Instanzen." Das sei auch aus der aus Datenschutzgründen
geschwärzten Fassung des IR-Berichtes ersichtlich.
Der
CDU-Familienpolitiker Christoph de Vries betonte, dass bei der
Ausschussarbeit nun "Sorgfalt vor Eile" gehen müsse. "Was sofort zu
veranlassen war, hat Sozialsenator Scheele auch mit unserer
Unterstützung gemacht", so de Vries.
Schnittstelle zwischen Staat und freien Trägern
Nun müsse man
sorgsam prüfen, um ähnliche Fälle für die Zukunft möglichst
auszuschließen. Wie auch Blömeke und die SPD-Jugendpolitikerin Melanie
Leonhard ist de Vries jedoch nicht davon überzeugt, die Verantwortung
für die Auswahl der Pflegeltern künftig vollständig zu
rekommunalisieren, also allein den Jugendämtern zu überlassen. Das hatte
Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) zunächst vorgeschlagen. Gerade bei
den staatlichen Stellen seien ja besonders gravierende Fehler gemacht
worden, betonten die Mitglieder des Ausschusses weitgehend
parteiübergreifend.
Mittlerweile
gibt sich Scheele in diesem Punkt zumindest kompromissbereit. "Es geht
mir vor allem um eine saubere Schnittstelle zwischen Staat und freien
Trägern, die ihre herausragende Rolle weiterhin behalten sollen", sagte
der Sozialsenator der "Welt". Besonders wichtig sei ihm ein
einheitliches System in allen Bezirken. "Da ich einen möglichst breiten
Konsens mit dem Ausschuss erzielen möchte, werde ich eine endgültige
Entscheidung nur mit dem Votum der Abgeordneten treffen."
Der
Sonderausschuss kommt erst nach der Sommerpause am 10. August zu seiner
nächsten Sitzung zusammen. Bis zum Herbst sollen die Abgeordneten
Vorschläge für eine Reform des Pflegekinderwesens erarbeiten, um
ähnliche Fälle künftig zu vermeiden. Dazu sollen auch externe Experten
gehört werden.
Tod in der Pflegefamilie
dapd
Mehrere Jahre lebte sie in einer Pflegefamilie in Hamburg-Wilhelmsburg.
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