Ein Justizbeamter präsentierte beim Prozess vor zehn Jahren die Totenkopfmaske, die der Täter beim Mord an Vanessa getragen hat.
(© Puchner/dpa)
Von Hans Holzhaider
Soll der Mörder der zwölfjährigen Vanessa entlassen werden oder weiter in Sicherungsverwahrung bleiben? Ein Psychiater trägt vor dem Augsburger Gericht sein Gutachten vor. Doch dieses ist nur wenige Seiten lang, voller Fehler - und bringt eine ganze Branche in Verruf.
Soll der Mörder der zwölfjährigen Vanessa entlassen werden oder weiter in Sicherungsverwahrung bleiben? Ein Psychiater trägt vor dem Augsburger Gericht sein Gutachten vor. Doch dieses ist nur wenige Seiten lang, voller Fehler - und bringt eine ganze Branche in Verruf.
Öffentliche Hinrichtungen wurden in Deutschland schon vor mehr als
150 Jahren abgeschafft, das letzte dieser grausamen Spektakel fand
angeblich 1864 in Marburg statt. Was sich am frühen
Mittwochabend in einem Augsburger Gerichtssaal zutrug, kam diesem
altertümlichen Ritual allerdings ziemlich nahe.
Leidtragender war der Psychiater Pantelis Adorf aus Würzburg, Leitender Medizinaldirektor in der dortigen Justizvollzugsanstalt und vom
Landgericht Augsburg als Sachverständiger bestellt zu
der Frage, ob
Michael W., der Mörder der zwölfjährigen Vanessa, der seine
Haftstrafe vollständig verbüßt hat, entlassen werden kann oder weiter in
Sicherungsverwahrung bleiben muss.
Am Faschingsdienstag 2002 tötete Michael W. die in ihrem
Kinderzimmer schlafende Vanessa mit mehreren Messerstichen, dabei trug
er eine Totenkopf-Maske. Das Gericht verurteilte den 19-Jährigen
daraufhin zu zehn Jahren Jugendstrafe. Die Zeit im Gefängnis hat
Michael W. abgesessen. Wie es mit ihm weitergeht, darüber wird nun am
Landgericht Augsburg verhandelt.
Für nach Jugendrecht Verurteilte darf die Sicherungsverwahrung nur
dann verhängt werden, wenn von dem Gefangenen eine "hochgradige Gefahr"
für schwerste Gewalt- und Sexualstraftaten ausgeht und
er unter einer psychischen Störung leidet. Deswegen werden vor
Gericht mehrere Meinungen von Gutachtern eingeholt. Eine Entscheidung soll in der kommenden Woche fallen.
Der Psychiater Adorf
hatte dazu ein 25 Seiten dünnes Gutachten vorgelegt, das so
offensichtlich unzureichend war, dass er von Staatsanwalt
Hans-Peter Dischinger dringend zu einer Nachbesserung aufgefordert
wurde. Diese Nachbesserung - acht Seiten stark - lag dem Gericht nun
vor, und W.s Verteidiger Adam Ahmed und Eva Gareis
unterzogen den Sachverständigen Adorf einer peinlichen Befragung -
ein Protokoll in Auszügen:
Rechtsanwältin Gareis: "In Ihrer Ergänzung zitieren Sie über eineinhalb Seiten aus einer nicht näher bezeichneten Arbeit von Herrn Nedopil. .
." (ein sehr bekannter Münchner Gerichtspsychiater, Anm. d. Red.)
SV Adorf: "Wo? Was? Das hab ich nur einfach so übernommen, ohne das weiter vertiefen zu wollen."
Rechtsanwältin Gareis: "Das hat also keine Relevanz?"
SV Adorf: "Nicht unbedingt, nein."
Rechtsanwältin Gareis: "Auf weiteren zwei Seiten zitieren Sie den Psychiater Frank Urbaniok."
SV Adorf: "Das hab' ich auch einfach so übernommen."
Rechtsanwältin Gareis: "Also kann man sagen, dass Ihr Ergänzungsgutachten eigentlich nur vier Seiten hat?"
SV Adorf: "Ja, das kann man ohne Weiteres sagen."
Rechtsanwältin Gareis: "In dem Text des Herrn Urbaniok ist die Rede von ein- bis dreijährigen follow-ups. Was
sind denn follow-ups?"
SV Adorf: "Keine Ahnung. Das hab ich einfach so übernommen."
Rechtsanwalt Ahmed: "Warum übernehmen Sie etwas, das keine Relevanz hat?"
SV Adorf: "Das ist meine Entscheidung. Das wollte ich einfach so."
Rechtsanwalt Ahmed: "Aber das muss doch einen Grund haben?"
SV Adorf: "Nicht unbedingt. Das sind so Gedanken von einem Kollegen, da kann man drüber nachdenken."
Rechtsanwalt Ahmed:
"Ihr Auftrag lautete, Sie sollten sich äußern zu der Frage, ob bei
Herrn W. eine psychische
Störung im Sinne des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) vorliegt.
Was sind denn nach Ihrer Ansicht die Kriterien für eine psychische
Störung im Sinne des ThUG?"
SV Adorf: "Das kann ich im Augenblick nicht beantworten."
Auch der Sachverständige Helmut Kury, der dem Gericht ein 300 Seiten
starkes Gutachten vorgelegt hatte, stellte einige Fragen an seinen
Gutachterkollegen aus Würzburg:
Kury: "Warum haben Sie denn ein Screening für
Sexualtäter benutzt, obwohl es im vorliegenden Fall keinerlei
Anhaltspunkte für eine sexuelle Motivation gibt?"
"SV Adorf: Das kann natürlich sein, dass sich da einige Fehler eingeschlichen haben. Da gibt es vielleicht noch
mehrere Punkte."
Kury: "Sie haben unter anderem den HCR 20 (ein psychologisches Testverfahren zur Risikoeinschätzung bei Gewaltdelikten) verwendet. Haben Sie denn das Handbuch zum HCR
20 gelesen?"
SV Adorf:"Nein. Ich bin ja auch kein Testpsychologe."
Kury: "Sie machen Voraussagen aufgrund eines
Verfahrens, von dem Sie keine Ahnung haben? Wenn ich Ihr Gutachten
veröffentliche, geht ein Aufschrei durch die Fachwelt."
SV Adorf: "Damit kann ich leben. Ich habe ja selber eingeräumt, dass es Defizite gab, wie es die ja auch
geben musste."
Der Vorsitzende Richter Lenart Hoesch sah aus, als müsse er sich
größte Mühe geben, um seine Contenance zu bewahren. Verteidiger Adam
Ahmed stellte den Antrag, den Sachverständigen Adorf
unverzüglich von seinen Aufgaben zu entbinden. Nach kurzer Pause
verkündete der Vorsitzende, über den Antrag könne an diesem Tag nicht
mehr entschieden werden, es bestehe noch erheblicher
Beratungsbedarf. Die Verhandlung vor dem Landgericht Augsburg wird
am Montag fortgesetzt.
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