Die
Staatsanwaltschaft ermittelt gegen 17 Betreuer, die eine Gruppe von
autistischen Kindern misshandelt haben sollen – Erzieher legen
Geständnisse ab
Nachts
plagen ihn diese „komischen Monstergefühle“. Wenn die Albträume Paul
wieder aus dem Schlaf reißen, verspürt er Druck im Magen, eine Art
„Schwergefühl“. Furcht beschleicht ihn, Angst, dass sie ihn wieder
quälen.
Paul, 16, leidet unter Autismus. In seiner Entwicklung befindet er sich auf dem Stand eines Kleinkindes. Als der Teenager bei der Polizei berichten soll, wie er auf Druck seiner Betreuer sein Erbrochenes essen musste, springt er auf und läuft aufgeregt durch das Vernehmungszimmer. Mit Gewalt hätten die Erzieher in der Wohngruppe „Lernfenster“ seine Lippen geöffnet, erzählt der Junge. Die Gruppenleiterin habe „mit der Faust gedroht“ und gesagt: „Wenn du deinen Mund nicht aufmachst, wirst du deine Mutter nicht mehr wiedersehen.“
Schuld an Pauls Torturen tragen offenbar Mitarbeiter der Hildener Betreuungsfirma Educon, gegen die jetzt die Staatsanwaltschaft Düsseldorf wegen Misshandlung Schutzbefohlener, Freiheitsberaubung und Nötigung ermittelt. Insgesamt 17 Betreuer stehen unter Verdacht.
Der Skandal nimmt weitaus größere Ausmaße an als bisher bekannt. Nach Informationen von FOCUS sollen die Kinder der Therapiegruppe „Lernfenster“ unter anderem gefesselt, angespuckt, geknebelt, eingesperrt und mit Essensentzug gequält worden sein.
Die Affäre blieb wegen der Ignoranz der Behörden über ein Jahr unter der Decke. Das Landesjugendamt, dem Hinweise auf das Martyrium der Kinder vorlagen, schaltete die Staatsanwaltschaft nicht ein.
Kurz nachdem die Wohngruppe aufgelöst worden war, informierte eine Educon-Bereichsleiterin am 17. Juni 2008 das Aufsichtsamt über gravierende Vorfälle im „Lernfenster“. Die Jugendwärter indes ließen die Justiz außen vor. Die Erklärung des Amtes für die Untätigkeit verblüfft: Man habe die Ermittler nicht informiert, weil die Gruppenleiterin ohnehin entlassen worden sei.
Auch die Educon unternahm zunächst nichts, um die Gewaltexzesse aufzuklären. Selbst ein Brandbrief dreier Erzieherinnen vom 18. Juli 2008, in dem weitere Misshandlungen geschildert wurden, führte zu keinerlei Konsequenzen. Erst als ein neuer Geschäftsleiter die Firma übernahm, „wurde der Sache auf den Grund gegangen“, erinnert sich eine Betreuerin.
So kam es erst im Herbst 2009 – mehr als ein Jahr nach Bekanntwerden der Vorwürfe – zur Selbstanzeige einer Mitarbeiterin. In einem Schreiben an die Ermittler wundern sich sogar die Anwälte des Trägervereins über das Desinteresse des Jugendamts. Schließlich seien der Behörde damals einige Beispielfälle mitgeteilt worden, aus denen sich „begründete Verdachtsmomente“ für Misshandlungen ergeben würden.
Nach FOCUS-Informationen haben inzwischen etliche beschuldigte Erzieher bei der Staatsanwaltschaft ein Geständnis abgelegt. Die Liste der mutmaßlichen Misshandlungen liest sich in den Ermittlungsprotokollen wie ein mittelalterliches Traktat zur Behandlung Schwererziehbarer:
Auf Befehl seiner Betreuer musste ein angeblich ungehorsamer Junge Dreck und Gras essen. Weil ein Kind mit vollem Mund gesprochen hatte, musste es mehr als acht Stunden auf einem Stuhl sitzen bleiben. Einem Mädchen stachen Mitarbeiter mit den Fingern immer wieder in die Augen, wenn es nicht spurte.
Bevor Paul sich übergeben musste, sollen Betreuer sich auf ihn gekniet haben. Er sei wochenlang in seinem nahezu leer geräumten Zimmer eingesperrt worden und durfte mitunter nicht auf die Toilette, heißt es in der Ermittlungsakte. Zeitweise sei er von bis zu sechs Pädagogen immer wieder angegriffen und zu Boden gestoßen worden. „Er wurde wie ein Spielball hin und her geschubst“, so eine Erzieherin.
Die Situation in der Gruppe schildert ein Ex-Mitarbeiter bei der Polizei als „blanken Horror“. Auf Geheiß der Gruppenleiterin Michaela Z., ergänzt ein Kollege, sei dem autistischen Jungen auf eine Hand geschrieben worden: „Ich wünsche mir . . .“ Und auf die andere Hand: „Das kriegst du nicht!“
Psychoterror pur. Die Taten, sollten sie sich bewahrheiten, resultierten wohl aus einer Mischung von Überforderung, Rücksichtslosigkeit und vor allem aber völlig übersteigertem Ehrgeiz der Leiterin der Behinderteneinrichtung.
Es begann im Jahr 2008. Im April richtete die Educon GmbH, eine Tochter der diakonischen und gemeinnützigen Graf-Recke-Stiftung, in Hilden die neue Wohngruppe ein. Ein ambitioniertes Projekt: Geistig behinderte und autistische Kinder sowie Jugendliche, die kurz davor standen, wegen besonders aggressiven Verhaltens in der Psychiatrie zu landen, sollten mit einer neuartigen Methode namens IntraActPlus therapiert werden. Um „positives Lernen“ zu ermöglichen, ging es zunächst darum, die „Körperkontaktblockierungen“ der autistischen Kinder zu beseitigen. Mittels der sogenannten Körperbezogenen Interaktionstherapie (KIT), die auf den Psychologen Fritz Jansen zurückgeht, sollten die Jungen und Mädchen unter anderem durch Berührungen und Festhalten lernen, körperliche Nähe „zu genießen“.
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft legen nahe, dass die Behandlungstechniken in Hilden gänzlich pervertierten. Behördensprecher Johannes Mocken nennt „die Heilmethoden“ im Hildener Fall „völlig ungeeignet“. Auch IntraActPlus-Erfinder Jansen distanzierte sich von „dieser Vorgehensweise“.
Kritiker wie Matthias Dose vom Bundesverband Autismus Deutschland hält die in Hilden praktizierte Maßnahme auch dann für „vollkommen verkehrt“, wenn sie richtig angewendet worden wäre. „Die Festhaltetherapie kann da nichts bewirken, ist zur Behandlung ungeeignet und keinesfalls empfehlenswert.“
Im Hildener „Lernfenster“ gab offenbar Gruppenleiterin Michaela Z., die beim Psychologen Jansen das Therapiekonzept erlernte, eine neue, ruppige Richtung vor. Ex-Kollegen bescheinigen der Erzieherin ein „guruhaftes“ Auftreten. Eines Tages habe die Jansen-Anhängerin befohlen, man solle nicht mehr abwarten, bis die Patienten handgreiflich würden, was auf Grund des Krankheitsbildes häufiger mal geschah. Man müsse jetzt den „Spieß umdrehen“ und selber attackieren, wenn sich wachsende Aggression bei den Kindern andeute. Dies sei wichtig für die Therapie.
Ein höchst fragwürdiges Konzept. Laut Zeugenaussagen malträtierten die Betreuer neben Paul vor allem die 15-jährige Magdalena. Das autistische Mädchen, häufig aggressiv, stießen die Betreuer ständig vom Stuhl. Diese Tortur, von den Beteiligten zynisch „Teppichrunde“ genannt, erstreckte sich zuweilen bis in den späten Abend.
Am 2. Mai 2008 dauerte die „Behandlung“ über acht Stunden – fast bis Mitternacht hielten die „Pädagogen“ das Mädchen danach im Bett umklammert.
Sie hätte schon damals gespürt, dass die Therapiemaßnahmen viel zu weit gingen, räumte eine Ex-Betreuerin im Nachhinein bei der Polizei ein. Die Patientin hätte „nicht umgelernt“, sondern sei „gebrochen worden“. Aus Angst vor der Kündigung habe man aber die Anweisung der Chefin Z. nicht in Frage gestellt.
Die Ermittler werten Hunderte Videos aus, die die Betreuer von den Übergriffen aufgenommen haben. Allerdings dauert die Analyse Monate, weil die Polizei nur eine Sachbearbeiterin an den brisanten Fall gesetzt hat.
Paul, 16, leidet unter Autismus. In seiner Entwicklung befindet er sich auf dem Stand eines Kleinkindes. Als der Teenager bei der Polizei berichten soll, wie er auf Druck seiner Betreuer sein Erbrochenes essen musste, springt er auf und läuft aufgeregt durch das Vernehmungszimmer. Mit Gewalt hätten die Erzieher in der Wohngruppe „Lernfenster“ seine Lippen geöffnet, erzählt der Junge. Die Gruppenleiterin habe „mit der Faust gedroht“ und gesagt: „Wenn du deinen Mund nicht aufmachst, wirst du deine Mutter nicht mehr wiedersehen.“
Schuld an Pauls Torturen tragen offenbar Mitarbeiter der Hildener Betreuungsfirma Educon, gegen die jetzt die Staatsanwaltschaft Düsseldorf wegen Misshandlung Schutzbefohlener, Freiheitsberaubung und Nötigung ermittelt. Insgesamt 17 Betreuer stehen unter Verdacht.
Der Skandal nimmt weitaus größere Ausmaße an als bisher bekannt. Nach Informationen von FOCUS sollen die Kinder der Therapiegruppe „Lernfenster“ unter anderem gefesselt, angespuckt, geknebelt, eingesperrt und mit Essensentzug gequält worden sein.
Die Affäre blieb wegen der Ignoranz der Behörden über ein Jahr unter der Decke. Das Landesjugendamt, dem Hinweise auf das Martyrium der Kinder vorlagen, schaltete die Staatsanwaltschaft nicht ein.
Kurz nachdem die Wohngruppe aufgelöst worden war, informierte eine Educon-Bereichsleiterin am 17. Juni 2008 das Aufsichtsamt über gravierende Vorfälle im „Lernfenster“. Die Jugendwärter indes ließen die Justiz außen vor. Die Erklärung des Amtes für die Untätigkeit verblüfft: Man habe die Ermittler nicht informiert, weil die Gruppenleiterin ohnehin entlassen worden sei.
Auch die Educon unternahm zunächst nichts, um die Gewaltexzesse aufzuklären. Selbst ein Brandbrief dreier Erzieherinnen vom 18. Juli 2008, in dem weitere Misshandlungen geschildert wurden, führte zu keinerlei Konsequenzen. Erst als ein neuer Geschäftsleiter die Firma übernahm, „wurde der Sache auf den Grund gegangen“, erinnert sich eine Betreuerin.
So kam es erst im Herbst 2009 – mehr als ein Jahr nach Bekanntwerden der Vorwürfe – zur Selbstanzeige einer Mitarbeiterin. In einem Schreiben an die Ermittler wundern sich sogar die Anwälte des Trägervereins über das Desinteresse des Jugendamts. Schließlich seien der Behörde damals einige Beispielfälle mitgeteilt worden, aus denen sich „begründete Verdachtsmomente“ für Misshandlungen ergeben würden.
Nach FOCUS-Informationen haben inzwischen etliche beschuldigte Erzieher bei der Staatsanwaltschaft ein Geständnis abgelegt. Die Liste der mutmaßlichen Misshandlungen liest sich in den Ermittlungsprotokollen wie ein mittelalterliches Traktat zur Behandlung Schwererziehbarer:
Auf Befehl seiner Betreuer musste ein angeblich ungehorsamer Junge Dreck und Gras essen. Weil ein Kind mit vollem Mund gesprochen hatte, musste es mehr als acht Stunden auf einem Stuhl sitzen bleiben. Einem Mädchen stachen Mitarbeiter mit den Fingern immer wieder in die Augen, wenn es nicht spurte.
Bevor Paul sich übergeben musste, sollen Betreuer sich auf ihn gekniet haben. Er sei wochenlang in seinem nahezu leer geräumten Zimmer eingesperrt worden und durfte mitunter nicht auf die Toilette, heißt es in der Ermittlungsakte. Zeitweise sei er von bis zu sechs Pädagogen immer wieder angegriffen und zu Boden gestoßen worden. „Er wurde wie ein Spielball hin und her geschubst“, so eine Erzieherin.
Die Situation in der Gruppe schildert ein Ex-Mitarbeiter bei der Polizei als „blanken Horror“. Auf Geheiß der Gruppenleiterin Michaela Z., ergänzt ein Kollege, sei dem autistischen Jungen auf eine Hand geschrieben worden: „Ich wünsche mir . . .“ Und auf die andere Hand: „Das kriegst du nicht!“
Psychoterror pur. Die Taten, sollten sie sich bewahrheiten, resultierten wohl aus einer Mischung von Überforderung, Rücksichtslosigkeit und vor allem aber völlig übersteigertem Ehrgeiz der Leiterin der Behinderteneinrichtung.
Es begann im Jahr 2008. Im April richtete die Educon GmbH, eine Tochter der diakonischen und gemeinnützigen Graf-Recke-Stiftung, in Hilden die neue Wohngruppe ein. Ein ambitioniertes Projekt: Geistig behinderte und autistische Kinder sowie Jugendliche, die kurz davor standen, wegen besonders aggressiven Verhaltens in der Psychiatrie zu landen, sollten mit einer neuartigen Methode namens IntraActPlus therapiert werden. Um „positives Lernen“ zu ermöglichen, ging es zunächst darum, die „Körperkontaktblockierungen“ der autistischen Kinder zu beseitigen. Mittels der sogenannten Körperbezogenen Interaktionstherapie (KIT), die auf den Psychologen Fritz Jansen zurückgeht, sollten die Jungen und Mädchen unter anderem durch Berührungen und Festhalten lernen, körperliche Nähe „zu genießen“.
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft legen nahe, dass die Behandlungstechniken in Hilden gänzlich pervertierten. Behördensprecher Johannes Mocken nennt „die Heilmethoden“ im Hildener Fall „völlig ungeeignet“. Auch IntraActPlus-Erfinder Jansen distanzierte sich von „dieser Vorgehensweise“.
Kritiker wie Matthias Dose vom Bundesverband Autismus Deutschland hält die in Hilden praktizierte Maßnahme auch dann für „vollkommen verkehrt“, wenn sie richtig angewendet worden wäre. „Die Festhaltetherapie kann da nichts bewirken, ist zur Behandlung ungeeignet und keinesfalls empfehlenswert.“
Im Hildener „Lernfenster“ gab offenbar Gruppenleiterin Michaela Z., die beim Psychologen Jansen das Therapiekonzept erlernte, eine neue, ruppige Richtung vor. Ex-Kollegen bescheinigen der Erzieherin ein „guruhaftes“ Auftreten. Eines Tages habe die Jansen-Anhängerin befohlen, man solle nicht mehr abwarten, bis die Patienten handgreiflich würden, was auf Grund des Krankheitsbildes häufiger mal geschah. Man müsse jetzt den „Spieß umdrehen“ und selber attackieren, wenn sich wachsende Aggression bei den Kindern andeute. Dies sei wichtig für die Therapie.
Ein höchst fragwürdiges Konzept. Laut Zeugenaussagen malträtierten die Betreuer neben Paul vor allem die 15-jährige Magdalena. Das autistische Mädchen, häufig aggressiv, stießen die Betreuer ständig vom Stuhl. Diese Tortur, von den Beteiligten zynisch „Teppichrunde“ genannt, erstreckte sich zuweilen bis in den späten Abend.
Am 2. Mai 2008 dauerte die „Behandlung“ über acht Stunden – fast bis Mitternacht hielten die „Pädagogen“ das Mädchen danach im Bett umklammert.
Sie hätte schon damals gespürt, dass die Therapiemaßnahmen viel zu weit gingen, räumte eine Ex-Betreuerin im Nachhinein bei der Polizei ein. Die Patientin hätte „nicht umgelernt“, sondern sei „gebrochen worden“. Aus Angst vor der Kündigung habe man aber die Anweisung der Chefin Z. nicht in Frage gestellt.
Die Ermittler werten Hunderte Videos aus, die die Betreuer von den Übergriffen aufgenommen haben. Allerdings dauert die Analyse Monate, weil die Polizei nur eine Sachbearbeiterin an den brisanten Fall gesetzt hat.
Ein Gutes hat die Sache: Nachdem die
Trägergesellschaft das „Lernfenster“-Personal im Sommer 2008
auswechselte, hätten sich die Kinder verändert, so eine Zeugin: „Sie
kommen auf einen zu, sie sind offen. Sie sind toll.“
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