Aus: Ausgabe vom 20.04.2015, Seite 3 / Schwerpunkt
Rechtlos in Bremen
Florian Orlowski hat sein Baby seit sieben Monaten nicht gesehen. Jugendamt ließ das Kind mit Polizeikommando aus dem Haus der Großeltern holen
Von Jana Frielinghaus
Staatliche Aufgaben wie die Vermittlung von
Pflegekindern sind auch in Bremen längst an eine Agentur outgesourct.
Sie und ihre Gesellschafter, die großen Wohlfahrtsverbände, verdienen an
jedem »Fall« viel Geld
Foto: Marc Tirl/dpa - Bildfunk
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Letztes Mittel – in der Theorie
Die sogenannte Inobhutnahme bezeichnet die vorläufige Aufnahme und Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen in einer Notsituation durch das für den Wohnort zuständige Jugendamt. Geregelt sind dessen Befugnisse im Paragraphen 42 des achten Sozialgesetzbuchs.Im Jahr 2013 kam es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 42.100mal zu dieser Maßnahme. Gegenüber dem Jahr 2007 entspricht dies einem Anstieg um knapp 50 Prozent. 2013 war laut Statistikbehörde der häufigste Anlass mit einem Anteil von 40 Prozent (16.900 Minderjährige) die »Überforderung der Eltern beziehungsweise eines Elternteils«. Rund ein Viertel der betroffenen Kinder wird dabei langfristig in einer Pflegefamilie oder einer Betreuungseinrichtung untergebracht. Neben den Fällen, in denen dieser schärfste Eingriff in das Familienleben, den das deutsche Recht ermöglicht, gerechtfertigt ist, gibt es jedoch immer mehr, in denen das Auseinanderreißen von Kindern und Eltern fern jeder Verhältnismäßigkeit ist.
Dabei haben Eltern nach Artikel 6 des Grundgesetzes das »natürliche Recht« auf »Pflege und Erziehung der Kinder«, das ihnen vom Staat nur im äußersten Notfall entzogen werden darf. In der Praxis entscheiden die Familiengerichte im Zusammenhang mit Akutmaßnahmen des Jugendamtes über einen Entzug des Sorgerechts. Dieser ist nach Paragraph 1666a des Bürgerlichen Gesetzbuches nur erlaubt, wenn einer Gefahr für das körperliche, geistige und seelische Wohl des Kindes »nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann«. Allein im vergangenen Jahr erklärte das Bundesverfassungsgericht in zehn Fällen die Trennung von Kindern von ihren Eltern für widerrechtlich. In einem der Beschlüsse aus Karlsruhe heißt es, um dergleichen zu rechtfertigen, müsse »das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist«. (jf)
Am 25. Juli findet im Amtsgericht eine Anhörung dazu statt. Am Nachmittag desselben Tages wird der Junge weggeholt und in ein Heim gebracht. Einige Tage später zieht Bozena S. mit ihm in eine Mutter-Kind-Einrichtung in Oldenburg. Das AFSD verbietet Florian Orlowski kurz darauf jeden Umgang mit den beiden. Und schon am 25. September wird der Mutter während eines Gesprächs zur weiteren »Hilfeplanung« eröffnet, sie werde nun von ihrem Sohn getrennt. Mit Unterstützung von Polizeibeamten wird Christian ihr quasi entrissen. Seither ist er in einer Pflegefamilie untergebracht – wo, das wissen Eltern und Großeltern bis heute nicht. Das Familiengericht bestätigte mit Beschluss vom 17. Oktober seine Entscheidung zum Sorgerechtsentzug. Beschwerden dagegen wies das Oberlandesgericht Bremen am 11. Dezember zurück.
Die Orlowskis wollten irgendwann nicht mehr stillhalten. Die Großeltern, beide pensionierte Lehrer, meldeten eine Demo für den 23. Februar an und marschieren seitdem jeden Montag mit einer wachsenden Unterstützerschar – etliche Mitstreiter sind selbst von amtlichem Kindesentzug betroffen – vom AFSD Mitte zum Amtssitz von Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne). Auch an sie haben sie sich mit mehreren Briefen gewandt. Eine Antwort gab es bis heute nicht.
Statt dessen wurde das Demonstrieren negativ in Florian Orlowskis Akte vermerkt. In einem Schreiben an das Familiengericht vom 18. Februar, das jW vorliegt, schrieb eine AFSD-Fallmanagerin, er sei offenbar weniger an Kontakten zu seinem Sohn »als an der öffentlichen Kundgebung seiner Situation interessiert«. Für sie komme »daher eine Rückführung in den väterlichen Haushalt und auch in den der Großeltern (…) nicht in Frage«. Angekreidet wird Orlowski auch, dass er die Begutachtung seiner erzieherischen Kompetenz durch eine vom Amtsgericht bestellte Sachverständige abgelehnt hat. Sein Anwalt Thomas Saschenbrecker sagte dazu im Gespräch mit jW: »Von Herrn Orlowski ist zu keinem Zeitpunkt eine Gefährdung des Kindeswohls ausgegangen, die dergleichen rechtfertigen würde.«
Im Haus von Sozialsenatorin Stahmann, Dienstherrin des AFSD, will man sich zum Fall nicht äußern. »Wir sind da raus, die Sache liegt bei Gericht«, erklärte Pressesprecher Bernd Schneider gegenüber jW – um dann doch deutlich durchblicken zu lassen, dass auch er die Orlowskis für Querulanten hält: Das Amt habe ihnen »eine ganze Reihe von Vorschlägen« unterbreitet, behauptete Schneider. Ihr Interesse am Kind sei aber sehr »schwankend« gewesen. Dabei hat das Amt Florian Orlowski in einem offiziellen Schreiben bereits am 4. August mitgeteilt, es werde auf E-Mails, Briefe, Anrufe von ihm und seinen Eltern bis auf weiteres nicht mehr reagieren. Dies sei im Interesse einer »störungsfreien Hilfeplanung« für Mutter und Kind »fachlich erforderlich und alternativlos«. Erst seit einigen Wochen gibt es wieder Mailkontakt zwischen dem AFSD und Orlowski.
Bremen war 2006 wegen des Todes des zweijährigen Kevin in die Schlagzeilen geraten. Die Behörden hatten ihn seinem drogensüchtigen und gewalttätigen Vater zurückgegeben, obwohl er von diesem bereits zuvor schwer verletzt worden war. Jetzt hält sich die Sozialsenatorin zugute, dass »80 Prozent mehr für Inobhutnahmen« ausgegeben werde. Im April 2014 teilte sie mit, keine andere Stadt bringe so viele Kinder in Heimen und Pflegefamilien unter.
Florian Orlowski hofft weiter, dass er bald das Sorgerecht für seinen Sohn bekommt. Wenn es soweit ist, will er sofort in Elternzeit gehen. Alles nachholen und zu reparieren versuchen, was die Behörden kaputtgemacht haben.
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