Von Birgit Walter
BERLIN. Ihre durchwachten Nächte hat Peggy S.
nicht gezählt. Nächte, in denen sie sich mit Selbstvorwürfen peinigte,
weil sie glaubte, das Glück ihrer Familie aufs Spiel gesetzt zu haben.
Weil sie immer alles so verdammt richtig machen wollte. Dabei hätte kein
Mensch ahnen können, dass sich ausgerechnet das Richtige, das
Vernünftige am Ende als Verhängnis erweisen würde. Eltern und
Kolleginnen hatten ihr abgeraten, mit der Tochter Katharina gleich zum
Psychologen zu rennen, nur weil die Fünfjährige zu aggressivem Spiel
neigte, andere Kinder an den Haaren zog und gelegentlich einfach grob
war. Peggy S. aber, selbst Erzieherin, beobachtete ihr überaus lebhaftes
Kind besonders genau; sie wollte nicht, dass es sich isolierte. Deshalb
suchte sie ab Dezember 2004 eine Psychologin auf, deren Sitzungen sie
selbst zahlte. Ein halbes Jahr später übernahm das Jugendamt die Kosten.
Schon bald zeichnete sich eine deutliche Besserung in Katharinas
Verhalten ab, sie integriere sich jetzt gut in die Gruppe, bestätigten
ihre Erzieherinnen.
Alles entwickelte sich wunschgemäß bis zu diesem 20. Januar 2006. An dem
Tag waren Peggy S. (34) und ihr Mann Steffen (39) vom Jugendamt
eingeladen, um gemeinsam mit der Psychologin den Fortgang der Hilfe zu
erörtern. Wegen dieses Termins sollten die Großeltern Katharina aus dem
Kindergarten abholen. Aber das Kind war weg. Abgeholt von
Mitarbeiterinnen des Jugendamtes Treptow-Köpenick. Ihre Tochter sei in
Obhut genommen worden, wurde den Eltern eröffnet. Aus dem Bericht der
behandelnden Psychologin gehe hervor, dass das Kind missbraucht worden
sei.
Die Eltern hielten ein Schreiben in den Händen, in dem die Psychologin
das Jugendamt darüber informierte, dass viele Symptome auf jahrelangen
Missbrauch schließen ließen und sie deshalb um Intervention bitte. Als
Täter kämen der Vater und die Großväter in Frage. Peggy und Steffen S.
zitterten. Dass sie die Vorwürfe verzweifelt zurückwiesen, interessierte
niemanden.
Die Jugendamts-Mitarbeiter gaben den Eltern einen Zettel mit
Adressen von Beratungseinrichtungen und schickten sie ins Wochenende,
ohne Kind. Es war Freitagnachmittag.
Peggy S. ist eine besonnene, in sich ruhende Frau. Selbst in dieser
extremen Situation wahrte sie noch irgendwie Fassung. Sie dachte, dieser
Irrtum ließe sich umgehend aufklären. Sie sollte sich irren. Ihr Mann
war außer sich, er sah sich plötzlich in die Rolle des
verachtungswürdigen Täters gedrängt. Als Mann, der sich an seiner
eigenen Tochter vergriffen haben soll.
Aber Moment, wir sind gerade einen Schritt zu weit gegangen. Dieser
Artikel berichtet bislang allein aus der Sicht der Familie S. und deren
Überzeugung, ihr sei gröbstes Unrecht widerfahren. Das Jugendamt in
seiner Wächterfunktion dagegen kennt die Familie zum Zeitpunkt der
Inobhutnahme des Kindes noch gar nicht. Ihm liegt einzig das Schreiben
einer Psychologin vor. Schwarz auf weiß steht da, der Schutz des Kindes
sei gefährdet. In jüngster Zeit sind Jugendämter immer wieder in Verruf
geraten, weil sie gerade nicht gehandelt haben. Weil unter zu laxer
Aufsicht Kinder verdursteten und verhungerten, weggesperrt und zu Tode
geprügelt wurden. Weil Ämter ersten Signalen nicht energisch nachgingen.
Im Fall von Katharina dagegen entschloss sich das Jugendamt, das
Gegenteil zu beweisen und zu handeln - sofort, unmissverständlich,
Freitagnachmittag. Als die Eltern der Inobhutnahme widersprachen, wurde
ihnen das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihr Kind gerichtlich entzogen.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Von Jugendämtern und Richtern
muss man erwarten, dass sie ernsten Hinweisen konsequent nachgehen und
gegebenenfalls den Schutz des Kindes über den der Familie stellen. Bei
einer "dringenden Gefahr für das Wohl des Kindes" schreibt das
Sozialgesetzbuch die Inobhutnahme vor. Hier aber beginnt auch die
besondere Verantwortung staatlicher Stellen - hier dürfen besonnene
Entscheidungen kompetenter, geschulter Mitarbeiter erwartet werden. Sie
müssen abwägen. Reicht die Auskunft einer einzelnen Psychologin für
einen derart schwerwiegenden Eingriff in eine augenscheinlich intakte
Familie? Widerspricht es nicht dem Vertuschungszwang einer
"Täter"-Familie, das Kind auf eigenen Antrieb, langfristig und auf
eigene Rechnung einer Psychologin anzuvertrauen?
Dass solche Fragen auf dem Jugendamt diskutiert wurden, muss bezweifelt
werden. Katharina war bereits volle zwei Wochen von ihren Eltern
getrennt, da hatte das Amt noch immer nichts unternommen, um die
Behauptung der Psychologin zu überprüfen.
Im Gegenteil, als die Eltern
vor Gericht eine Begutachtung ihres Kindes verlangten - das Schreiben
der Psychologin ist lediglich eine "Feststellung" -, ließ sich die
Kollegin vom Jugendamt zu der Bemerkung hinreißen: "Was wollen Sie Ihrem
Kind denn noch alles zumuten?"
Wohlgemerkt, einem Kind, das aus der Familie gerissen den ganzen Tag von
Fremden betreut wurde und nicht einmal mehr in den Kindergarten gehen
durfte. Dessen Wohl das Jugendamt im Munde führte, ohne eine Vorstellung
zu entwickeln, wie sich der einsame Missbrauchs-Vorwurf überhaupt
aufklären lassen soll. Auf die Frage dieser Zeitung, warum dem Kind
nicht nur die Eltern, sondern auch der Kindergarten vorenthalten wurde,
rief der Jugendstadtrat Joachim Stahr: "Sie haben ja keine Ahnung! Was
sind denn zwei Wochen Inobhutnahme gegen jahrelangen Missbrauch des
Kindes? Dagegen geht es ihm jetzt gut!"
Die Unschuldsvermutung, die für jeden Schwerverbrecher vor Gericht gilt,
scheint hier nicht zu gelten. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich
zuständige Amtspersonen die Frage stellten, ob der Vorwurf der
Psychologin auch unwahr sein könnte. Im Gegenteil. Peggy S. berichtet,
dass das Jugendamt von der Familie mehrfach ein Schuldeingeständnis
verlangte: "Wir erkennen immer noch nicht, dass Sie bereit sind, Ihrer
Tochter zu glauben."
Die Ungeheuerlichkeit dieser Forderung erschließt sich, wenn man
bedenkt, dass es von der Tochter keinerlei Aussagen gibt. Das Kind - es
ist körperlich unstrittig unversehrt - hat natürlich nie behauptet, dass
es am Penis seines Vaters oder Großvaters habe lecken müssen. Es ist
fünf. Da braucht es deutlich subtilere Methoden, einen Missbrauch
aufzudecken.
Die Psychologin gab dem Kind eines Tages Puppen zum Spielen, denen
auffällige Penisse und Schamhaare angehäkelt waren. Aus deren
aggressiver Verwendung leitet sie die schweren Vorwürfe ab. Katharina
habe alles in den Mund genommen, an allem geleckt, den Penis der
Vater-Puppe massiert. Außerdem habe sie erzählt, dass sie beim Essen von
Aal würgen müsse. Für die Psychologin ist das ein klarer
Missbrauchshinweis.
Die Erklärung der Familie, Katharina habe während einer Familienfeier
beim Aalessen eine Gräte geschluckt und würgen müssen, ignorierte das
Jugendamt.
Die Psychologin bezeichnet das als "nachgereichte Erklärung".
Fragt man sie, ob sie denn wisse, dass anatomische Puppen wegen ihrer
zweifelhaften Beweiskraft von Gerichten abgelehnt werden, antwortet sie:
"Deswegen arbeite ich mit anderen Puppen." Später sagte die Frau, deren
Schreiben der einzige Anhaltspunkt für die Trennung der Familie war:
"Ich bin froh, dass ich nicht das Gutachten erstellen muss."
Unterdessen traf das Jugendamt keine weitere Entscheidung, die dazu
geeignet gewesen wäre, den Fall aufzuklären. Der Ehemann hatte nach zwei
Wochen vorgeschlagen, aus der Wohnung auszuziehen, wenn dafür seine
Tochter wieder nach Hause dürfe. Er bezog ein Provisorium, die Tochter
durfte wieder zu ihrer Mutter. Vom Jugendamt kam danach noch der
Vorschlag, Katharina weiter von der Psychologin behandeln zu lassen.
Wie wollten sich die zuständigen Mitarbeiter des Jugendamtes eigentlich
ein Bild von der Familie machen? Einen Besuch bei ihr zu Hause gab es
nicht, ein Gespräch mit dem vermeintlichen Täter, dem Vater, auch nicht.
Die frühere Lebensgefährtin von Steffen H. etwa wollte dem Amt
vortragen, dass der Vater ihrer heute 14-jährigen Tochter aus ihrer
Sicht niemals für eine solche Tat in Frage käme. Es kostete sie Mühe und
zahllose Anrufe, im Jugendamt jemanden zu erreichen, der ihr zuzuhören
bereit war.
Dass bei dem schweren Verdacht nicht sofort eine Prüfung der
Familienverhältnisse in Gang gesetzt wurde, ist bemerkenswert. Der
Kommentar zum Kinder- und Jugendhilfegesetz schreibt bei so harten
Eingriffen vor der Anrufung des Familiengerichtes eine nochmalige
sorgfältige Prüfung des Verdachts durch das Jugendamt vor. Dieses Amt
dagegen schien bis zum Schluss an der Aufklärung des Falles
desinteressiert. Familie S. hat sich beim Jugendamtsleiter über die
Verschleppung des Falles beschwert. Eine Antwort bekam sie nicht.
Am vergangenen Dienstag erhielt Peggy S. Post von der
Staatsanwaltschaft. Sie hatte Anzeige erstattet gegen unbekannt, weil
ihr Kind angeblich missbraucht worden war und niemand den Täter kannte.
Misstrauisch schlich sie um den Brief herum. Ihr Kind war zwei Wochen in
staatlicher Obhut, seit sieben Wochen darf ihr Mann nicht mehr nach
Hause. Der Umgang mit sämtlichen Großvätern war untersagt. Katharinas
Erzieherinnen üben sich seit den Missbrauchsvorwürfen in beredtem
Schweigen. Nach den Erfahrungen im Jugendamt, die Peggy S. beschreibt,
glaubte sie nicht mehr an gute Nachrichten. Anders als das Jugendamt hat
sich die Staatsanwaltschaft jedoch mit dem Fall beschäftigt. Sie hat
die "Beweis"-Videos von Katharinas Puppenspiel ihrer eigenen Psychologin
zur Stellungnahme gegeben und kam zu einem klaren Schluss: "Ein
sexueller Missbrauch hat nicht stattgefunden. Das Ermittlungsverfahren
ist unverzüglich einzustellen."
Die Staatsanwaltschaft hält selbst eine Begutachtung des Kindes nicht
für vertretbar, weil nicht einmal ein Anfangsverdacht vorliege. Sie
begründet detailliert, warum die "kritikwürdige suggestive Befragung"
des Kindes durch die "offenbar unerfahrene" Therapeutin zu
Falschaussagen und fatalen Konsequenzen führen könne.
Peggy S. tanzte durch die Wohnung, sie meinte, der Albtraum sei vorbei.
Zu früh. Hat sie etwa erwartet, ein Mitarbeiter des Jugendamtes stünde
am nächsten Tag mit Blumen und einer Entschuldigung vor der Tür, wegen
der falschen Anschuldigung, des zerstörerischen familiären Eingriffs?
Nein. Aber hat das Jugendamt zumindest - wie bei der Inobhutnahme -
augenblicklich das Familiengericht angerufen, um die Fehlentscheidung
korrigieren zu lassen? Nein.
Das Jugendamt fand den Brief der Staatsanwaltschaft, der am Dienstag bei
Peggy S. eintraf, erst am Freitag. Der Sprecher des Bezirksamtes
verstand die Aufregung nicht - auch die Staatsanwaltschaft könne irren.
Die zuständige Sachbearbeiterin im Jugendamt, Frau Samland, machte
gegenüber der Familie deutlich, dass sie keinen sofortigen
Handlungsbedarf sehe, das Kind sei doch verhaltensauffällig. Nach einem
Eilantrag der Familie kündigte die Richterin gestern an, ihr Urteil
aufzuheben. Vorher wolle sie noch Rücksprache mit dem Jugendamt nehmen.
Steffen S. hofft, dass er am heutigen Dienstag wieder bei seiner Familie
einziehen kann.
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"Ein Anfangsverdacht für sexuellen Missbrauch ist bei Katharina nicht zu
begründen."
Der Staatsanwalt über den Fall
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Foto: Peggy und Steffen S. mit ihrer Tochter Katharina. Das Jugendamt
hatte das Mädchen direkt aus dem Kindergarten abholen lassen.
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