05.07.12

Margot Honeckers langer Schatten Der „letzte Mohikaner der DDR-Jugendhilfe“ bringt ehemalige Heimkinder und Bürgerrechtler in Rage



LEIPZIG - Vielleicht ist Eberhard Mannschatz nur ein alter Mann. Einer, der sein Lebenswerk bedroht sieht. Ein Mann, der sich nicht rechtfertigen will – mit 84 Jahren, knapp 22 Jahre nach dem Mauerfall, aber muss. „Ich werde zu einem Monster stilisiert“, sagt er, und seine Stimme droht zu brechen. Unverständlich sei das alles, und unverschämt, was man ihm antue. „Ich bin Wissenschaftler und habe viel erreicht, viel Gutes getan. Dass man mir jetzt das Wort verbieten will, das hätte es in der DDR niemals gegeben“, beharrt Eberhard Mannschatz auf seiner Sicht der Dinge.

Mit sich im Reinen, doziert er aus dem Plattenbau in Berlin-Hellersdorf heraus über Kollektiverziehung und Jugendwerkhöfe, bezeichnet sich als letzten Mohikaner der DDR-Jugendhilfe. Eine so private wie exklusive Sicht, die ihm unbenommen sein könnte – gebe es da nicht ein Lehrbuch des Rauhen Hauses, der anerkannten Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in Hamburg, in dem der einstige Denker und Lenker des DDR-Volksbildungsministeriums die reine Lehre predigen darf. Und somit wird aus der Selbsteinschätzung ein Politikum, mit dem sich sogar die CDU-Bundestagsfraktion in Berlin befasste.
Hintergrund ist ein 1995 von Eberhard Mannschatz in Hamburg gehaltener Vortrag, der 2001 in einem Buch veröffentlicht wurde, das mittlerweile in vierter Auflage vorliegt. Unter dem Titel „Rückblick auf die Soziale Arbeit in der DDR“ fanden die Aussagen auf 36 Seiten ihren Eingang in den Sammelband des Grundkurses für soziale Arbeit an jener ehrwürdigen Hochschule, die im Jahre 1833 von dem Theologen Johann Hinrich Wichern als Stiftung der Diakonie gegründet wurde.

Momentan werden hier 500 Studenten ausgebildet. Kurz und schlecht: Der ehemalige Funktionär, der bis heute als Margot Honeckers rechte Hand für die ganz schwierigen Fälle gilt, erklärt und bewertet seine eigene Arbeit. „Manche Vorwürfe lassen sich angesichts der Fakten nicht oder nicht in der vermuteten Zuspitzung aufrechterhalten“, führt Mannschatz in seinem Lehrbuch-Beitrag beispielsweise aus, und fährt fort: „Es ging um Hilfe in persönlichen Problemlagen. . . . Der Orientierungsansatz für Jugendhilfe und Heimerziehung war als sozialpädagogische Aufgabe gefasst.“
Genau diese Formulierungen sind es, die Evelyn Zupke aus der Fassung bringen. Sie bringt ans Licht, was seit 1995 im Kirchenlehrbuch zum guten, zum unkritischen Ton gehört: Die DDR-Bürgerrechtlerin, mittlerweile in Hamburg zu Hause, beginnt im Dezember 2011 an besagter Hochschule ein Studium. Mit 50 Jahren, berufsbegleitend, neben der täglichen Arbeit. „Und dann greift plötzlich noch mal dieser lange Arm der SED nach mir“, ist Evelyn Zupke von ihrer Begegnung mit dem Mannschatz-Aufsatz bestürzt. Es war ihr erstes Fachbuch in dem Studium.

Noch im alten Jahr interveniert sie im Seminar des betreffenden Professors und bei der Hochschulleitung gegen das Unterrichtsmaterial. „Das Schlimmste war nicht einmal, dass diese Leute, gebildete Menschen, den Mannschatz verteidigt haben, sondern dass mir ein Desinteresse entgegengeschlagen ist, wie ich es mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht mehr für möglich hielt.“
Denn die Fakten sind längst bekannt. In der DDR gab es 38 Spezialheime, darunter das „Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und Pädagogisch-Psychologische Therapie“, 32 Jugendwerkhöfe sowie den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Bis zum Mauerfall durchliefen etwa 300 000 Kinder und Jugendliche eine DDR-Heimerziehung, die 474 staatlichen Kinderheime eingeschlossen. Während der Amtszeit von Eberhard Mannschatz erging unter anderem die Verordnung „über die zeitweise Isolierung von Minderjährigen aus disziplinarischen Gründen in den Spezialheimen der Jugendhilfe“ (1967), die die mehrtägige Unterbringung von arbeitsunwilligen oder sonst renitenten Kindern und Jugendlichen in Arrestzellen ermöglichte.
Am gefürchtetsten war Torgau, wo sich die einzige geschlossene Disziplinierungseinrichtung befand – und als dessen geistiger Vater der inzwischen 84-Jährige gilt. „Torgau war ein Fehler. So habe ich das nicht gewollt“, sagt Eberhard Mannschatz heute, „die Abschreckungsfunktion hat die Atmosphäre in anderen Jugendwerkhöfen vergiftet.“ Den Geschlossenen Jugendwerkhof, nach der Wende zur Gedenkstätte umgebaut, hat der DDR-Obererzieher nur ein einziges Mal besucht. Vor der Wende. Seine Begründung: „Das muss ich mir nicht mehr antun.“

Bis zur Auflösung im November 1989 mussten sich in Torgau 4046 Jugendliche einem Drill unterziehen, den selbst Funktionäre wie Eberhard Mannschatz den Jugendlichen maximal sechs Monate zuteil werden lassen wollten. So ist zumindest das Höchstmaß für eine temporäre Einweisung gewesen. Frühere Insassen dürfen inzwischen, nach einem Urteil des Berliner Kammergerichts, eine strafrechtliche Rehabilitierung beanspruchen. Bund und ostdeutsche Länder haben sich vor einigen Wochen nach jahrelangen Diskussionen darauf geeinigt, in einem Fonds 40 Millionen Euro für Entschädigungszahlungen an DDR-Heimkinder zur Verfügung zu stellen.

Viele der damaligen Einweisungsgründe sprechen eine klare Sprache: Versuchte Republikflucht, Teilnahme an Demos, Interesse für kirchliche Belange. Doch von all dem ist an der Hochschule nach der Intervention durch Evelyn Zupke nicht die Rede. Die Hochschule antwortet der Studentin: „Die Hochschulleitung will und wird in keiner Weise in die Freiheit von Forschung und Lehre ihrer Professorinnen und Professoren regulierend eingreifen und somit sicher nicht die Nutzung des Buches oder einzelner Teile verhindern.“ Zudem, so befindet Rektor Andreas Theurich, verfolge der Band „ein didaktisches Konzept“.
Der erste, der sich tatsächlich für Evelyn Zupke Zeit nimmt, ist Lutz Rathenow, Beauftragter für die Stasi-Unterlagen im weit entfernten Sachsen. Er schreibt im April gemeinsam mit Siegfried Reiprich, Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, einen Offenen Brief an die Hochschule, an dem sich Verfolgtenverbände und Aufarbeitungsinitiativen aus ganz Sachsen beteiligen. Dann reagiert auch der Unions-Fraktionschef im Bundestag, Volker Kauder. Er schreibt dem zuständigen Bischof, Gerhard Ulrich, einen wütenden Brief, woraufhin dieser seinerseits reagiert und von einem „Fehler, für den mir jedes Verständnis fehlt“, spricht. Die Hochschule kann nicht anders und reagiert nun: „Wir wissen heute, dass die kommentarlose Veröffentlichung des in Rede stehenden Textes in dem Fachbuch ein Fehler war.“
Für Evelyn Zupke spielt das alles keine Rolle mehr – die 50-Jährige hat sich im Laufe der Auseinandersetzungen von der Hochschule exmatrikulieren lassen. „Ich wollte nicht wieder in der ersten Reihe den gleichen Kämpfen ausgesetzt sein, wie ich sie in der DDR und auch danach ausfechten musste.“ Sie habe keine Kraft mehr, das immer wieder aufs Neue beginnen zu müssen. (Von Andreas Debski)

INTERVIEW

Mannschatz will verschleiernChristian Sachse ist der Autor einer aktuellen Expertise zur Heimerziehung in der DDR. Mit ihm sprach Andreas Debski.

MAZ: Was haben Sie gedacht, als Sie von der Mannschatz-Lehre erfahren haben?
Christian Sachse: Meine erste Reaktion ist Empörung gewesen. Nach all dem, was wir inzwischen über Mannschatz als Funktionär wissen, ist es ein Armutszeugnis für eine solch angesehene Ausbildungsstätte. Auf den ersten Blick erscheint vieles, was er sagt und schreibt, harmlos – doch wir haben seine Schriften längst dekodiert.

Ist das Geschichtsrevisionismus?
Sachse: Natürlich. Jeder, der sich genauer mit Mannschatz und der DDR-Heimerziehung befasst, wird schnell bemerken, was Mannschatz hier verschleiern will. Die Schriften und Vorträge sind der hilflose Versuch, seine Vergangenheit zu legitimieren und in die neue Zeit zu retten. Dafür deutet er längst bekannte Wahrheiten um. Ein Beispiel: Mannschatz setzt die Kollektiverziehung- Ost mit der Gruppenerziehung-West gleich – doch das sind zwei verschiedene Paar Schuhe, die pädagogischen Ansätze sind vollkommen anders. Er führt auch an, dass Jugendwerkehöfe offen gewesen sein sollen, das waren sie aber niemals, selbst wenn die Tore offen standen. Das ist doch das Perfide gewesen!

 
04.07.2012


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