LEIPZIG -
Vielleicht ist Eberhard Mannschatz nur ein alter Mann. Einer, der sein
Lebenswerk bedroht sieht. Ein Mann, der sich nicht rechtfertigen will –
mit 84 Jahren, knapp 22 Jahre nach dem Mauerfall, aber muss. „Ich werde
zu einem Monster stilisiert“, sagt er, und seine Stimme droht zu
brechen. Unverständlich sei das alles, und unverschämt, was man ihm
antue. „Ich bin Wissenschaftler und habe viel erreicht, viel Gutes
getan. Dass man mir jetzt das Wort verbieten will, das hätte es in der
DDR niemals gegeben“, beharrt Eberhard Mannschatz auf seiner Sicht der
Dinge.
Mit sich im Reinen, doziert er aus dem
Plattenbau in Berlin-Hellersdorf heraus über Kollektiverziehung und
Jugendwerkhöfe, bezeichnet sich als letzten Mohikaner der
DDR-Jugendhilfe. Eine so private wie exklusive Sicht, die ihm unbenommen
sein könnte – gebe es da nicht ein Lehrbuch des Rauhen Hauses, der
anerkannten Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in
Hamburg, in dem der einstige Denker und Lenker des
DDR-Volksbildungsministeriums die reine Lehre predigen darf. Und somit
wird aus der Selbsteinschätzung ein Politikum, mit dem sich sogar die
CDU-Bundestagsfraktion in Berlin befasste.
Hintergrund ist ein 1995 von Eberhard Mannschatz
in Hamburg gehaltener Vortrag, der 2001 in einem Buch veröffentlicht
wurde, das mittlerweile in vierter Auflage vorliegt. Unter dem Titel
„Rückblick auf die Soziale Arbeit in der DDR“ fanden die Aussagen auf 36
Seiten ihren Eingang in den Sammelband des Grundkurses für soziale
Arbeit an jener ehrwürdigen Hochschule, die im Jahre 1833 von dem
Theologen Johann Hinrich Wichern als Stiftung der Diakonie gegründet
wurde.
Momentan werden hier 500 Studenten ausgebildet.
Kurz und schlecht: Der ehemalige Funktionär, der bis heute als Margot
Honeckers rechte Hand für die ganz schwierigen Fälle gilt, erklärt und
bewertet seine eigene Arbeit. „Manche Vorwürfe lassen sich angesichts
der Fakten nicht oder nicht in der vermuteten Zuspitzung
aufrechterhalten“, führt Mannschatz in seinem Lehrbuch-Beitrag
beispielsweise aus, und fährt fort: „Es ging um Hilfe in persönlichen
Problemlagen. . . . Der Orientierungsansatz für Jugendhilfe und
Heimerziehung war als sozialpädagogische Aufgabe gefasst.“
Genau diese Formulierungen sind es, die Evelyn
Zupke aus der Fassung bringen. Sie bringt ans Licht, was seit 1995 im
Kirchenlehrbuch zum guten, zum unkritischen Ton gehört: Die
DDR-Bürgerrechtlerin, mittlerweile in Hamburg zu Hause, beginnt im
Dezember 2011 an besagter Hochschule ein Studium. Mit 50 Jahren,
berufsbegleitend, neben der täglichen Arbeit. „Und dann greift plötzlich
noch mal dieser lange Arm der SED nach mir“, ist Evelyn Zupke von ihrer
Begegnung mit dem Mannschatz-Aufsatz bestürzt. Es war ihr erstes
Fachbuch in dem Studium.
Noch im alten Jahr interveniert sie im Seminar
des betreffenden Professors und bei der Hochschulleitung gegen das
Unterrichtsmaterial. „Das Schlimmste war nicht einmal, dass diese Leute,
gebildete Menschen, den Mannschatz verteidigt haben, sondern dass mir
ein Desinteresse entgegengeschlagen ist, wie ich es mehr als 20 Jahre
nach der Wiedervereinigung nicht mehr für möglich hielt.“
Denn die Fakten sind längst bekannt. In der DDR
gab es 38 Spezialheime, darunter das „Kombinat der Sonderheime für
Psychodiagnostik und Pädagogisch-Psychologische Therapie“, 32
Jugendwerkhöfe sowie den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Bis zum
Mauerfall durchliefen etwa 300 000 Kinder und Jugendliche eine
DDR-Heimerziehung, die 474 staatlichen Kinderheime eingeschlossen.
Während der Amtszeit von Eberhard Mannschatz erging unter anderem die
Verordnung „über die zeitweise Isolierung von Minderjährigen aus
disziplinarischen Gründen in den Spezialheimen der Jugendhilfe“ (1967),
die die mehrtägige Unterbringung von arbeitsunwilligen oder sonst
renitenten Kindern und Jugendlichen in Arrestzellen ermöglichte.
Am gefürchtetsten war Torgau, wo sich die
einzige geschlossene Disziplinierungseinrichtung befand – und als dessen
geistiger Vater der inzwischen 84-Jährige gilt. „Torgau war ein Fehler.
So habe ich das nicht gewollt“, sagt Eberhard Mannschatz heute, „die
Abschreckungsfunktion hat die Atmosphäre in anderen Jugendwerkhöfen
vergiftet.“ Den Geschlossenen Jugendwerkhof, nach der Wende zur
Gedenkstätte umgebaut, hat der DDR-Obererzieher nur ein einziges Mal
besucht. Vor der Wende. Seine Begründung: „Das muss ich mir nicht mehr
antun.“
Bis zur Auflösung im November 1989 mussten sich
in Torgau 4046 Jugendliche einem Drill unterziehen, den selbst
Funktionäre wie Eberhard Mannschatz den Jugendlichen maximal sechs
Monate zuteil werden lassen wollten. So ist zumindest das Höchstmaß für
eine temporäre Einweisung gewesen. Frühere Insassen dürfen inzwischen,
nach einem Urteil des Berliner Kammergerichts, eine strafrechtliche
Rehabilitierung beanspruchen. Bund und ostdeutsche Länder haben sich vor
einigen Wochen nach jahrelangen Diskussionen darauf geeinigt, in einem
Fonds 40 Millionen Euro für Entschädigungszahlungen an DDR-Heimkinder
zur Verfügung zu stellen.
Viele der damaligen Einweisungsgründe sprechen
eine klare Sprache: Versuchte Republikflucht, Teilnahme an Demos,
Interesse für kirchliche Belange. Doch von all dem ist an der Hochschule
nach der Intervention durch Evelyn Zupke nicht die Rede. Die Hochschule
antwortet der Studentin: „Die Hochschulleitung will und wird in keiner
Weise in die Freiheit von Forschung und Lehre ihrer Professorinnen und
Professoren regulierend eingreifen und somit sicher nicht die Nutzung
des Buches oder einzelner Teile verhindern.“ Zudem, so befindet Rektor
Andreas Theurich, verfolge der Band „ein didaktisches Konzept“.
Der erste, der sich tatsächlich für Evelyn Zupke
Zeit nimmt, ist Lutz Rathenow, Beauftragter für die Stasi-Unterlagen im
weit entfernten Sachsen. Er schreibt im April gemeinsam mit Siegfried
Reiprich, Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, einen
Offenen Brief an die Hochschule, an dem sich Verfolgtenverbände und
Aufarbeitungsinitiativen aus ganz Sachsen beteiligen. Dann reagiert auch
der Unions-Fraktionschef im Bundestag, Volker Kauder. Er schreibt dem
zuständigen Bischof, Gerhard Ulrich, einen wütenden Brief, woraufhin
dieser seinerseits reagiert und von einem „Fehler, für den mir jedes
Verständnis fehlt“, spricht. Die Hochschule kann nicht anders und
reagiert nun: „Wir wissen heute, dass die kommentarlose Veröffentlichung
des in Rede stehenden Textes in dem Fachbuch ein Fehler war.“
Für Evelyn Zupke spielt das alles keine Rolle
mehr – die 50-Jährige hat sich im Laufe der Auseinandersetzungen von der
Hochschule exmatrikulieren lassen. „Ich wollte nicht wieder in der
ersten Reihe den gleichen Kämpfen ausgesetzt sein, wie ich sie in der
DDR und auch danach ausfechten musste.“ Sie habe keine Kraft mehr, das
immer wieder aufs Neue beginnen zu müssen. (Von Andreas Debski)
INTERVIEW
Mannschatz will verschleiernChristian Sachse ist der Autor einer aktuellen Expertise zur Heimerziehung in der DDR. Mit ihm sprach Andreas Debski.
MAZ: Was haben Sie gedacht, als Sie von der Mannschatz-Lehre erfahren haben?
Christian Sachse:
Meine erste Reaktion ist Empörung gewesen. Nach all dem, was wir
inzwischen über Mannschatz als Funktionär wissen, ist es ein
Armutszeugnis für eine solch angesehene Ausbildungsstätte. Auf den
ersten Blick erscheint vieles, was er sagt und schreibt, harmlos – doch
wir haben seine Schriften längst dekodiert.
Ist das Geschichtsrevisionismus?
Sachse:
Natürlich. Jeder, der sich genauer mit Mannschatz und der
DDR-Heimerziehung befasst, wird schnell bemerken, was Mannschatz hier
verschleiern will. Die Schriften und Vorträge sind der hilflose Versuch,
seine Vergangenheit zu legitimieren und in die neue Zeit zu retten.
Dafür deutet er längst bekannte Wahrheiten um. Ein Beispiel: Mannschatz
setzt die Kollektiverziehung- Ost mit der Gruppenerziehung-West gleich –
doch das sind zwei verschiedene Paar Schuhe, die pädagogischen Ansätze
sind vollkommen anders. Er führt auch an, dass Jugendwerkehöfe offen
gewesen sein sollen, das waren sie aber niemals, selbst wenn die Tore
offen standen. Das ist doch das Perfide gewesen!
04.07.2012
http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/12354114/492531/Der-letzte-Mohikaner-der-DDR-Jugendhilfe-bringt-ehemalige.html
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