Immer öfter spielen Jugendämter Schicksal. Gegen den Willen der Eltern holen sie die Kinder aus ihrer Familie. Dafür müssen sie sich nicht einmal rechtfertigen. Und eine Kontrollinstanz gibt es nicht.
Die Haustür öffnet sich halb, als das Auto vorfährt, heraus gucken zwei blonde Jungen. Bettina Siebert (Name geändert) steigt aus, zögernd nähert sie sich dem Haus, den Kopf leicht vorgereckt, um die beiden Kinder zu mustern. Plötzlich erkennt sie ihren fünfjährigen Sohn, „Florian!“, ruft sie und rennt auf ihn zu. „Mama!“, ruft er und wirft sich in ihre Arme. Während sie ihn kniend umarmt, blickt sie über seine Schulter ins Innere des Hauses. „Christina, kommt Christina auch?“, fragt sie besorgt.
Eine dunkelhaarige, kräftige Frau kommt in den Flur: Frau S. Höflich schüttelt sie Bettina Siebert die Hand, ohne sie jedoch hereinzubitten. Sieberts elfjährige Tochter Christina kommt die Treppe herunter und drückt die Mutter zur Begrüßung. Frau S. sieht zu, sagt: „Vergiss deine Jacke nicht“, und dann streicht sie Christina liebevoll die Haare aus dem Gesicht. „Bringen Sie sie um sechs wieder?“, fragt Frau S. Die Mutter nickt.
„Ich vermisse dich so sehr, ich will nach Hause“
Seit Ende Juni leben Christina und Florian bei Herrn und Frau S. Sie sind Pflegekinder. Für die Betreuung zweier Kinder dieses Alters bekommen Pflegeeltern am Wohnort der Familie S. im Monat 1730 Euro netto vom Staat, und vielleicht muss Bettina Siebert ihnen demnächst „Unterhalt“ zahlen und einen Teil dieser Kosten übernehmen. So, als habe sie ihre Kinder wegen eines neuen Partners verlassen und würde nicht alleine in ihrer Wohnung mit den leeren Kinderzimmern sitzen.
Vor vier Jahren suchte sie erstmals den Kontakt zum Jugendamt, seit Ende 2006 erhielt sie Hilfen zur Erziehung, weil sie aufgrund von Eheproblemen depressiv war. Als ihr Mann der Wohnung verwiesen wurde - er wurde ihr gegenüber aggressiv -, landeten die Kinder im vergangenen März im Heim, danach kamen sie in die Pflegefamilie. Bettina Siebert lebt seitdem allein, seit Ende August ist sie geschieden. Sie nimmt Antidepressiva, befindet sich seit längerem in einer Psychotherapie, ihre Psychologin und ihre Psychiaterin bestätigen ihr seit Anfang März in regelmäßigen Abständen, dass „die Fortsetzung der Betreuung ihrer beiden Kinder derzeit weiterhin möglich“ ist und ein „ausreichendes Verantwortungsgefühl“ sowie eine „ausreichende Urteils- und Kritikfähigkeit“ bestünden. Anders ausgedrückt: Seit der Mann weg ist, geht es Bettina Siebert gut.
Das Jugendamt Bochum-Wattenscheid aber lässt die Kinder in der Pflegefamilie. Als Siebert an diesem Nachmittag mit ihnen zum Eisessen fährt, redet ihr Sohn sie mit dem Vornamen der Pflegemutter an und berichtigt sich: „Ich meine: Mama.“ Sie schweigt, dann sagt sie leise, mehr zu sich selbst: „Die haben es ja schon bald geschafft, dass wir uns fremd sind.“ Sechs Wochen lang durfte sie ihre Kinder nicht sehen, nachdem sie zu den S. gezogen waren, nicht einmal Briefe durfte sie schicken, dabei hatte Christina ihr doch aus dem Heim geschrieben: „Ich vermisse dich so sehr, ich will nach Hause.“
Erziehungsindustrie Kindesentzug
Zurzeit sieht sie ihre Kinder alle vier Wochen, einmal in der Woche darf sie sie anrufen. Die Pflegemutter schaltet dann die Lautsprecherfunktion ein, weil Frau Siebert einmal am Telefon geweint hat. Weinen ist verboten, weil es die Kinder unglücklich macht. „Es tut so schrecklich weh - als wenn einem das Herz herausgerissen würde“, sagt Bettina Siebert. Nach Ansicht von Uwe Jopt, Professor für Psychologie an der Universität Bielefeld und Gutachter an Familiengerichten, ist die Trennung von den Eltern „die schwerste seelische Verletzung, die einem Kind zugefügt werden kann“ - angeordnet „von Leuten, die dafür psychologisch unzureichend ausgebildet sind“.
An eine Rückkehr der Kinder ist indes nach Ansicht des Amtsgerichts Bochum gar nicht zu denken. Der zuständige Familienrichter will nach einer Anhörung der Kinder im Gegenteil prüfen lassen, ob Frau Siebert die elterliche Sorge entzogen werden muss. Ihr Anwalt Heribert Kohlen spricht von einem Skandal. „Der Kindesentzug ist eine richtige Erziehungsindustrie geworden, ganz normalen Familien, die Hilfe brauchten, werden die Kinder weggenommen, weil sie nicht die erzieherischen Standards von Sozialpädagogen haben“, sagt Romy Linke-Rothenberg, Vorsitzende des Vereins „Family Angels“, der sich um Eltern in Notsituationen kümmert. „Jeder, der Hilfe braucht, wird sofort stigmatisiert, vor Gericht entsteht eine Konkurrenzsituation zwischen Eltern und Jugendamt: Wer ist der bessere Erzieher? Das ist fatal.“
Eigentlich müsste das Jugendamt helfen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Kinder zurück zu ihren Eltern können, es gibt die sogenannte Mitwirkungspflicht im Kindschaftsrecht, nach der Eltern und Kindern nicht die gemeinsame Basis entzogen werden darf. Doch seit Jugendämter sich immer öfter dafür rechtfertigen müssen, dass Kinder in Kühlschränken oder Blumenkübeln gefunden werden - grausam misshandelt und getötet von ihren Müttern und Vätern -, seitdem werden so viele Kinder aus ihren Familien genommen wie nie zuvor in Deutschland: 435mal geschah das im vergangenen Jahr gegen den Willen der Eltern, das war fast dreimal so oft wie 2006 und viermal so oft wie noch im Jahr 2000.
Dem Jugendamt ausgeliefert
Ursache dafür ist nach Ansicht von Heinrich Kupffer, emeritierter Professor für Sozialpädagogik und einstiger Leiter von Landerziehungsheimen, ein struktureller Fehler: Es werde so getan, als seien die Mitarbeiter der Jugendämter allwissend - ein riesiges gesellschaftliches Problem werde auf ihren Schultern abgeladen. Dieser Herausforderung sei niemand gewachsen, und unter Druck neigten Jugendämter dazu, auf Nummer Sicher zu gehen: Sie griffen mit harter Hand durch, statt sich lange mit einem Fall auseinanderzusetzen und dort zu helfen, wo es nötig sei.
Eine übergeordnete Behörde aber, die die Ämter kontrolliert, gibt es nicht. Seit Anfang dieses Jahres beschäftigt sich daher der Petitionsausschuss des Europaparlaments in Brüssel mit dem Thema. Dessen Vorsitzender, Marcin Libicki, meint, „dass sich die Mitarbeiter deutscher Jugendämter zum Teil diskriminierend verhalten und dies nicht dem europäischen Recht entspricht“. Sind die Kinder jedoch erst mal von ihren Eltern getrennt, sind die Familien den Jugendämtern quasi ausgeliefert.
Zum Beispiel im Fall Mosuch: Die Tochter von Michael Mosuch und seiner Lebensgefährtin Maike Weber wird Ende Dezember vergangenen Jahres geboren. Zwölf Tage nach der Geburt, am 10. Januar 2008, unterzeichnet das unverheiratete Paar eine gemeinsame Sorgeerklärung, am nächsten Tag lässt sich Maike Weber wegen eines durch die Entbindung ausgelösten psychotischen Schubs ins Krankenhaus einweisen, der Säugling wird bei ihren Eltern untergebracht, wo der Vater die Kleine jeden Tag besucht. Nach drei Tagen verbietet ihm die Großmutter plötzlich, seine Tochter zu sehen.
Statusbedingte Arroganz
Vier Tage lang lässt sie ihn nicht zu seiner Tochter, so dass er sich schließlich an den Sozialen Dienst des Jugendamtes Stuttgart wendet. Die Großmutter soll das Kind herausgeben, er will es zu Hause versorgen. Eine Vollmacht von Maike Weber legt er drei Tage später beim Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt vor. Am nächsten Tag bekommt Michael Mosuch Besuch vom Jugendamt. Er zeigt den beiden Mitarbeitern sämtliche Babyutensilien und erklärt auf Nachfrage, wie die Fläschchen in kochendem Wasser sterilisiert werden. Das Jugendamt guckt sich alles an und unternimmt - nichts. Am nächsten Abend schreitet er deshalb selbst zur Tat: Er will sein Kind, in Absprache mit seiner Lebensgefährtin, von den Großeltern wegholen. Daraufhin entzieht das Amtsgericht Stuttgart Mosuch noch am gleichen Tag das Aufenthaltsbestimmungsrecht: Es sei „völlig ungeklärt, ob der Vater überhaupt in der Lage ist, den erst wenige Wochen alten Säugling sachgerecht zu versorgen“.
Dass ein Jugendamt einem Vater das Kind „wegnimmt“, obwohl er ihm „nichts getan“ hat - dass das Amt also vorbeugend tätig wird -, ist seit vergangenen März möglich: Da wurde der Paragraph 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs novelliert, um Gerichten den Sorgerechtsentzug zu erleichtern. Seitdem muss das Jugendamt nicht mehr den Nachweis elterlichen Versagens führen, um die Kinder aus der Familie herauszunehmen. Das bedeutet: Eltern müssen schon dann um ihr Sorgerecht fürchten, wenn ihre Erziehungsvorstellungen von denen der Behörden abweichen. Professor Kupffer spricht in diesem Zusammenhang von „statusbedingter Arroganz“: Die Eingriffsmacht des Amtes werde zur Urteilskompetenz umgedeutet, „dass der Eingriff des Amtes aber selbst eine Gefahr darstellen könnte, bleibt unberücksichtigt“.
Mosuchs Kind kommt zwei Tage später in eine Bereitschaftspflegefamilie. Mosuch sagt: „Ich wurde vom Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt erpresst, dem zuzustimmen. Die Familienrichterin Brigitte L. hat mir erklärt, sonst würde sie die Möglichkeiten schaffen, mir das Sorgerecht insgesamt zu entziehen.“ So schaffen Gerichte die Voraussetzungen dafür, dass Kinder ihre Eltern verlieren und in einer Pflegefamilie aufwachsen. Die Jugendämter, deren Anregungen die Gerichte fast immer folgen, müssen sich dafür noch nicht einmal rechtfertigen. So heißt es in einer Handreichung des Kreisjugendamtes Böblingen vom 27. Juni 2005 an seine Mitarbeiter: „Entscheidungen in Krisensituationen beruhen auf Prognosen. Auch bei sorgfältiger Prüfung lassen sich Fehlentscheidungen nicht ausschließen.“
„Ein rechtsfreier Raum“
Die Handreichung stelle „sicher, dass das Jugendamt nachweisen kann, alles getan zu haben. Damit sind auch die Fachkräfte im Jugendamt vor Schuldvorwürfen oder strafrechtlicher Verfolgung geschützt.“ Für Wolfgang Klenner, psychologischer Gerichtssachverständiger in Familiensachen und Emeritus für Psychologie, heißt das: „Entscheidungen von schicksalhafter Tragweite werden von Behördenmitarbeitern getroffen, die auch bei vorsätzlich verantwortungslosem Handeln nicht haftbar gemacht werden können. Das nennt man einen rechtsfreien Raum.“
Mosuch geht im Januar davon aus, dass seine Lebensgefährtin bald in eine Mutter-Kind-Einrichtung wechseln kann, und gibt seine Zustimmung zu der Bereitschaftspflege ausdrücklich nur bis zu diesem Termin. Richterin L. jedoch beugt vor: Mitte Februar stellt sie rückwirkend mit Hilfe eines nachträglich beauftragten Gutachters klar, dass die Sorgeerklärung, die Mosuch und Weber am 10. Januar unterschrieben haben, nichtig sei. Weber sei damals schon nicht mehr geschäftsfähig gewesen. Sie ignoriert dabei, dass die Urkundsbeamtin des Jugendamts, die die Urkunde ausgestellt hatte, anderer Ansicht war.
Die Folge: Das Jugendamt wird Vormund des Säuglings. Im Mai bekommt Maike Weber endlich einen Platz in einer Mutter-Kind-Einrichtung - doch das Kind wird nicht dorthin verlegt. Das Jugendamt Stuttgart lässt wissen, ein „Ad-hoc-Wechsel“ sei „nicht im Sinne des Wohlergehens“ des Säuglings. Mosuch ist fassungslos, wählt von nun an nicht immer einen ruhigen Ton. Man hält ihn bald für renitent und reduziert die sogenannten Umgangskontakte der Eltern mit ihrem Kind auf einmal die Woche.
Hausverbot vom Amtsleiter
Die Lage eskaliert, als Mosuch Mitte Juni ein Video dreht, das später im Internet und vor kurzem auch im Fernsehen zu sehen war. Darauf sieht man, wie eine Mitarbeiterin des Amtes den Eltern den für diesen Tag anberaumten Umgangskontakt verbietet, weil sie sich in die Enge getrieben fühlt. Sie sagt „Jetzt reicht's“ und kündigt an, den Säugling in die Notaufnahme des Jugendamtes zu verlegen.
Ein paar Tage später erfahren die Eltern: Sie dürfen ihr Kind wegen der Homepage und der „mangelnden Kooperation“ Mosuchs nicht mehr sehen, außerdem sollen sie sich einem Gutachter vorstellen, der ihre Erziehungsfähigkeit überprüfen soll - was beide verweigern. Bei Mosuch, dem der Amtsleiter zudem ein Hausverbot ausspricht, kommt dies so an: Das Jugendamt stellt eigene Befindlichkeiten über das Wohl des Kindes. Professor Kupffer kann das nur bestätigen: „Will das Amt seine Eingriffskompetenz erhalten, wird es das Kind diesem Ziel opfern.“
Zwar ordnet das Amtsgericht Mitte Juli an, dass das Jugendamt den Eltern den Umgang wieder ermöglichen muss, und weist sogar darauf hin, dass das Amt an die Einhaltung des Grundgesetzes gebunden ist. Doch sehen Mosuch und Frau Weber ihre Tochter erst drei Monate nach ihrem letzten Umgangskontakt wieder. Einer der Gründe: Angeblich war die zuständige Mitarbeiterin im Jugendamt vier Wochen lang „nicht anwesend“.
Größenwahn des Jugendamtes
Fortan können die Eltern ihr Kind zwar wieder einmal in der Woche sehen, doch immer nur für zwei Stunden und nie allein. Die Termine werden immer wieder ohne Absprache verlegt oder fallen „krankheitsbedingt“ aus. Offensichtlich soll es Mosuch und Frau Weber, die inzwischen wieder gesund ist, erschwert werden, sie einhalten zu können. Doch beide sind immer auf die Minute pünktlich und kümmern sich, wie die Mitarbeiterin des Kinderschutzbundes notiert, „liebevoll“ um die Kleine.
Dennoch hält das Jugendamt fest, die Besuche stellten für die Kleine „eine große Belastung dar, da sie in der Vergangenheit häufig wechselnde Bezugspersonen“ gehabt habe und gerade beginne, „eine Beziehung zu den neuen Pflegeeltern aufzubauen“. Mitte Oktober beantragt das Amt bei Gericht, die „Umgangskontakte“ auszusetzen: Die Eltern hätten sich geweigert, ihre Erziehungsfähigkeit begutachten zu lassen, und der Vater habe „mit seinem Verhalten eine Atmosphäre geschaffen“, die „weder dem Kind noch den weiteren Beteiligten zumutbar“ sei. Ohne die Antwort der Richterin abzuwarten, reduziert das Jugendamt die Treffen zwischen Eltern und Kind auf einmal im Monat.
„Das Amt hat die ganz legale Befugnis, eine von ihm selbst markierte Menschengruppe de facto ihrer Bürgerrechte zu berauben“, meint Kupffer. Wer sich aber daran gewöhne, andere zu kontrollieren und ihren Lebensweg zu steuern, werde schließlich selbst daran glauben, „dass er das auch wirklich kann, weil er es darf. Dies nenne ich den strukturellen Größenwahn des Jugendamtes.“
Auch Bettina Siebert bekommt den nun zu spüren: Sie soll ebenfalls dafür büßen, dass sie versucht hat, um ihre Kinder zu kämpfen. Nachdem sie sich an diese Zeitung gewandt hatte, teilte ihr die Pflegemutter mit, sie solle „sich nicht einbilden, dass sie ihre Kinder jemals zurück“ bekomme.
Von Katrin Hummel FAZ
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