Ein zehnjähriges Mädchen – nennen wir
es Klara – entwickelt ohne fassbaren Grund plötzlich Schulangst. Der auf
Anraten des Klassenlehrers eingeschaltete Therapeut hat zunächst
Erfolg. Doch Klaras Angst kehrt zurück. Die Schulleitung beginnt jetzt
zu drohen. Der Therapeut verschreibt ein Medikament. Es hilft auf
Anhieb.
Doch nach etwa drei Monaten sprengt die Angst sozusagen den pharmazeutischen Deckel weg.
Klara geht wieder wochenlang nicht zur Schule. Das Schulamt wird
informiert. Daraufhin empfiehlt der Therapeut eine stationäre
Behandlung. Klara weigert sich, droht mit Selbstmord. Soll sie gewaltsam
eingeliefert werden?
Der Therapeut sagt zu den Eltern: Wenn Sie das nicht
schaffen, müssen wir die Polizei einschalten. Klaras Mutter bricht
zusammen. Dem Vater schwillt der Kamm. Das gehe ihm entschieden zu weit.
Doch er wird sachkundig darüber belehrt, gegen Schulangst in
fortgeschrittenem Stadium helfe nur noch unnachgiebige Härte.
Als einige Tage später zwei Polizisten auftauchen,
schließt sich Klara in ihrem Zimmer ein. Die Beamten drohen, gewaltsam
einzudringen.
Da springt das Mädchen – im Nachthemd, barfuss – aus
dem Fenster, rennt blindlings die Straße entlang, schreit um Hilfe. Die
Polizisten wollen ihr nachsetzen. Jetzt fällt beim Vater endlich der
Groschen. Er stoppt die Aktion, schreit: Schluss jetzt! Aus! Vorbei!
Schlagartig wird ihm klar, wer hier eigentlich die Irren sind. Der
Therapeut warnt beim nächsten Termin vor juristischen Konsequenzen.
Klaras Eltern bleiben standhaft und konsultieren den Mann nie wieder.
Die Würde des Kindes ist unantastbar – solange es nicht in der Schule fehlt. Wo leben wir eigentlich? In einer Diktatur?
Ich wage eine provokante These: Schulangst lässt
sich in vielen Fällen als gesunde seelische Schutzreaktion gegen die
kränkenden Auswirkungen des ganz normalen Widersinns heutiger Beschulung
deuten.
Wie kommen wir dazu, Kindern von vornherein
abzusprechen, dass sie für ihr unerwünschtes Verhalten gute Gründe haben
könnten? Im Übrigen genießt Schule eine absurde gesellschaftliche
Überbewertung. Die Skandalisierung von Schulangst ist der eigentliche
Skandal, ihre zumeist voreilige und unnötige Pathologisierung wirft ein
Licht auf die Pathologie unserer Normalität.
Klara wurde seelisch gefoltert – zur Strafe dafür,
dass sie den Schulbesuch als seelische Folter empfand. Wer sich an
solchen Vorgängen beteiligt, müsste, wenn es mit rechten Dingen zuginge,
vor Gericht gestellt werden. Es geht aber nicht mit rechten Dingen zu.
Was Klara widerfuhr, gilt heute als korrekt. Jedes Gericht würde den
Therapeuten freisprechen.
Klara ist kein Einzelfall. Ich höre immer häufiger von solchen Vorgängen. Der Terror nimmt zu.
Kommentare
Kerstin , 11.04.12 16:04
Danke, für diese klaren Worte
Joschka , 26.04.12 19:04
Ich habe diesen Artikel im Warteraum einer Ärztin gelesen und mich hat der Artikel berührt. Danke für das öffnen der Augen.
Angela , Hamburg, 16.09.12 01:09
Es spricht mir aus dem Herzen. Klara könnte mein Sohn sein. Es ist
das, was ich derzeit durchmache. Und ich empfinde es als Irrsinn,
soziale Ängste als dermaßen krankhaft darzustellen. Es ist ein Aberwitz.
Würden wir z.B. in Dänemark leben, hätten wir das Problem, das wir
haben, überhaupt nicht. Denn dort gibt es die Unterrichtspflicht und
nicht die Schulpflicht. Der ganze Druck kommt nur von außen. Und der
Druck, den wir derzeit erfahren, ist enorm!!! Mein Sohn soll auch
zwangseingewiesen werden und ich frage mich "wieso"? Wir sehen dazu
keinerlei Veranlassung. Soziale Ängste (Bloßstellung, ausgelacht werden,
etwas Falsches zu sagen, es den Lehrern nicht recht machen können usw.)
finde ich nicht so krankhaft, als dass man deshalb in die Psychatrie
zwangseingewiesen werden soll!!
Das ganze Schulsystem gehörte ohnehin überholt, so wie die neuesten Hirnforschungen es auch immer wieder fordern. Schade, dass alles so lange dauert und schade, dass die Privatschulen so überlaufen sind bzw. es nicht mehr gibt, so dass man auch einen Platz bekommt!
Viele Grüße von einer betroffenen Mutter
Das ganze Schulsystem gehörte ohnehin überholt, so wie die neuesten Hirnforschungen es auch immer wieder fordern. Schade, dass alles so lange dauert und schade, dass die Privatschulen so überlaufen sind bzw. es nicht mehr gibt, so dass man auch einen Platz bekommt!
Viele Grüße von einer betroffenen Mutter
Wenn man das liest bekommt man richtig Angst.Ich hoffe wir werden uns in einigen Jahren darüber Schämen was wir heute zum Teil unseren Kindern antun.
AntwortenLöschenMit einem gesunden Menschenverstand dürfte sowas doch gar nicht passieren. Es gibt genügend andere Möglichkeiten wie den Betroffenen geholfen werden könnte.Zum Beispiel ein Unterricht zu Hause oder vielleicht eine Schule die wirklich auf die Bedürfnisse von Kindern eingeht und die ein Ort ist wo sich jedes Kind wohl fühlt (Davon gibt es leider noch zu wenige) Ein Kind deswegen in eine Psychiatrie zwangseinweisen zu wollen zeigt wie irre doch unsere Gesellschaft ist.