Interview – Der Darmstädter Sozialrichter Jürgen Borchert über die Kinderfeindlichkeit des deutschen Sozialstaats und den Raubbau an der Zukunft des Landes
DARMSTADT.
ECHO: Herr Borchert, in
Deutschland kommen immer weniger Kinder zur Welt, die Geburtenrate hat
sich in den vergangenen 40 Jahren halbiert. Und von diesen Kindern leben
in unserem reichen Land immer noch mehr als zwei Millionen in Armut.
Wie geht es Familien im Jahr 2014 in Deutschland?
Jürgen Borchert: Diese negative Entwicklung – die Halbierung der Geburtenrate und die Versechzehnfachung des Anteils der Kinder, die auf Sozialhilfe angewiesen sind – ist weltweit einmalig. Das ist ein Raubbau an der wirtschaftlichen Zukunft Deutschlands. Denn immer weniger Kinder und immer ärmere Kinder bedeuten auch: weniger Bildung. Dass Deutschland in punkto Bildungsanstrengungen in der Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) auf dem viertletzten Platz gleichauf mit Mexiko steht, zeigt, dass das Land vergessen hat, was die Wirtschaft bei uns stark gemacht hat – nämlich das sogenannte Humanvermögen. Es sind die Nachwuchsgenerationen und das Bildungsniveau, auf die es entscheidend ankommt.
ECHO: Aber der Staat gibt doch eine Menge Geld für Familien und Kinder aus. Das Bundesfamilienministerium spricht von 200 Milliarden Euro im Jahr, angefangen vom Kindergeld über das Ehegattensplitting bis zur Kinderbetreuung. Ist dieses Geld zum Fenster hinausgeworfen?
Borchert: Das sind Mythen und Märchen, die dem Publikum serviert werden. Die Untersuchung des Familienministeriums, auf die Ihre Frage abhebt, ist eine schlichte Addition von Haushaltsposten. Ausgespart bleibt in der Studie zu den ehe- und familienbezogenen Leistungen die entscheidende Frage, wer diese Summe eigentlich bezahlt. Wesentliche Ursache der Armut der Familien in Deutschland ist die zukunftsvergessene, verfassungswidrige Gesetzgebung. Wir müssen uns klar machen, dass sich die öffentlichen Hände hierzulande zu 45 Prozent über Sozialversicherungsbeiträge und zu über 30 Prozent über Verbrauchsteuern, etwa die Mehrwertsteuer, finanzieren. Diese Steuern wirken regressiv, im Gegensatz zum progressiven Tarif der Einkommensteuer.
ECHO: Das heißt, Verbrauchsteuern treffen Ärmere deutlich härter als Wohlhabende.
Borchert: Ja, bei einem regressiven Tarif werden schwache Schultern relativ stärker belastet als starke Schultern. Das ist der Hintergrund des Familiendramas in Deutschland. Wir finanzieren die öffentlichen Aufgaben zu über 70 Prozent aus Abgaben, die vor allem die ärmeren und mittleren Einkommensschichten aufbringen. Und das trifft dann noch mal in jeder Schicht Familien mit Kindern besonders hart, weil sich bei ihnen die Einkommen auf mehrere Personen verteilen.
ECHO: Aber es gibt doch zum Beispiel den Kinderfreibetrag bei der Einkommensteuer.
Borchert: Das ist richtig, aber die Einkommensteuer ist eine direkte Steuer. Sie hat noch Reste des Ideals konserviert, dass starke Schultern in einer Gesellschaft gerechterweise größere Lasten tragen und wir darauf achten sollten, dass die Umverteilung in einem Sozialstaat nicht von unten nach oben verläuft, sondern von oben nach unten.
ECHO: Wenn ich Sie richtig verstehe, finanzieren die Familien also einen Großteil der familienpolitischen Ausgaben selbst.
Borchert: Ja, genau das ist der Punkt. Der Staat nimmt den Familien erst die Mittel weg, die er dann geradezu gönnerhaft ausschüttet. Das ist ein Spiel, das wir seit Jahrzehnten erleben, und das uns die heutige Misere – weniger Geburten, immer mehr Kinder in Armut – eingebrockt hat. So treibt es kein anderes Land mit seinen Familien.
ECHO: Gleichwohl hat der Staat in den vergangenen Jahren ja einiges getan, etwa mit dem Elterngeld oder dem Betreuungs-
anspruch für unter Dreijährige. Geht das in die richtige Richtung?
Borchert: Das Elterngeld ist zweifellos sinnvoll. Mit der Einschränkung, dass auch diese Maßnahme, wie eben besprochen, wesentlich aus dem – indirekten – Steueraufkommen finanziert wird. Bei der Kinderbetreuung wurde zwar die Quantität enorm gesteigert, aber nicht die Qualität. Was die Qualifikation der Erzieher, den Betreuungsschlüssel und die Ausstattung der Krippen angeht, entspricht die Mehrzahl nicht internationalen Standards. Da bahnt sich, wenn man der einschlägigen Forschung folgt, eine Katastrophe an. Denn schlechte Krippen führen dazu, dass das Bildungsvermögen der Kinder nicht weiterentwickelt, sondern beeinträchtigt wird. Das ist das Gegenteil von dem, was wir brauchen.
ECHO: Das Bundesfamilienministerium betont, die subventionierte Kinderbetreuung sei eine sehr wirksame Maßnahme zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die viele Eltern wünschen.
Borchert: Es ist kein Geheimnis, dass das Konzept der sogenannten modernen Familienpolitik seinerzeit im arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft erarbeitet wurde. Die aktuelle Familienpolitik vollzieht die Interessen der Arbeitgeber, die eine Verknappung des Arbeitskräfteangebots und damit eine Verteuerung des Faktors Arbeit befürchten. Deshalb sollen die letzten Reserven gehoben werden: die Arbeitskraft der Mütter.
ECHO: Es gibt aber viele Frauen, die nicht nur arbeiten gehen müssen, um ihre Familien über die Runden zu bringen, sondern die das auch wollen.
Borchert: Richtig, ich will mich auch nicht zum Fürsprecher eines antiquierten Familienbildes machen. Aber es muss ein Weg gefunden werden, das Familienleben an erste Stelle zu setzen und die Arbeitswelt den Bedürfnissen der Familien anzupassen – und nicht umgekehrt, wie wir es in den vergangenen Jahren forciert erleben.
ECHO: Der Kinderschutzbund fordert, anstelle all der bisherigen Förderleistungen eine Grundsicherung von 500 Euro im Monat für jedes Kind zu zahlen. Wäre das eine bessere und gerechtere Lösung?
Borchert: Der Vorschlag ist gut gemeint, aber nicht gut durchdacht. Er setzt an dem Symptom der Kinderarmut an, aber er fragt nicht, was die Ursache dieser Entwicklung ist.
ECHO: Folgt man Ihren Worten, dann werden Familien mit Kindern in Deutschland trotz aller familienpolitischen Wohltaten durch das Steuer- und Sozialsystem systematisch benachteiligt, ja regelrecht ausgebeutet. Wie ließe sich das ändern?
Borchert: Die OECD hat festgestellt, dass kein anderes Land in der Welt seine Arbeitnehmer so brutal zur Kasse bittet wie Deutschland. Auch das Bundesverfassungsgericht hat auf dieses Problem schon wiederholt aufmerksam gemacht. Die deutsche Sozialversicherung hat den großen Fehler, dass sie nur Arbeitnehmer in die Pflicht nimmt. Dazu kommt, dass für alle Einkommenshöhen der gleiche Beitragssatz gilt, und es obendrein anders als bei der Einkommensteuer eine Beitragsbemessungsgrenze gibt, die Besserverdiener vor höheren Zahlungen bewahrt.
ECHO: Das bedeutet: je geringer das Einkommen, desto härter drückt die Last der Sozialversicherungen.
Borchert: Genau. Für Familien kommt erschwerend hinzu, dass sie doppelt benachteiligt werden: am Arbeitsmarkt und im Sozialversicherungssystem. Bei Arbeitseinkommen wird nicht danach gefragt, wie viele Münder davon satt werden müssen. Das ist in aller Welt so. Aber im Unterschied zu anderen Ländern wird diese Benachteiligung von Familien bei der Entlohnung im deutschen Sozialsystem nicht ausgeglichen, sondern verdoppelt, weil die Löhne zu Lasteseln des Sozialstaats gemacht werden und die Beiträge Unterhaltslasten nicht berücksichtigen. Schließlich, und das ist die dritte Ungerechtigkeit, haben Familien mit der Kindererziehung auch die Altersvorsorge für die Kinderlosen zu leisten, die immer und ausnahmslos ja aus dem von der Nachwuchsgeneration erarbeiteten Volkseinkommen stammen. Diese dreifache Benachteiligung ist die Ursache der doppelten Kinderarmut in diesem Land. Das Bundesverfassungsgericht hat 1992 im sogenannten Trümmerfrauen-Urteil und 2001 in einem Urteil zur Pflegeversicherung, dem sogenannten „Beitragskinder-Urteil“, darauf hingewiesen, dass diese Verteilungsordnung verfassungswidrig ist, weil sie den Gleichheitsgrundsatz bei Familien verletzt. Das Gericht hat eine familiengerechte Ausgestaltung der Sozialversicherung gefordert. Darum geht es mir.
ECHO: Passiert ist aber nichts.
Borchert: Ja, dieser Verfassungsauftrag aus Karlsruhe wurde vom Gesetzgeber wie feuchter Kehricht behandelt.
Sozialrichter und engagierter Streiter für die Rechte von Familien
Jürgen Borchert (65) ist einer der profiliertesten Sozialexperten
in Deutschland. Der promovierte Jurist streitet seit Jahrzehnten für
eine Reform der Sozial- und Familienpolitik. Dabei setzt er sich für
mehr Verteilungsgerechtigkeit zwischen Starken und Schwachen im Sozial-
und Steuersystem ein. Der gebürtige Gießener ist seit 1986 als Richter
am Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt tätig. Noch bis Ende
November leitet er dort den Sechsten Senat. Er formulierte die
Klageschriften, die 1992 zum „Trümmerfrauen-Urteil“ und 2001 zum
„Pflege-
urteil“ des Bundesverfassungsgerichts führten. Borcherts Senat war es auch, der mit Erfolg das Verfassungsgericht anrief, die Berechnungen der Hartz-IV-Leistungen zu überprüfen. Die Karlsruher Richter verpflichteten den Gesetzgeber 2010, die Regelungen nachzubessern. Borchert ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim globalisierungskritischen Netzwerk Attac und als Berater für Parteien, Kirchen, Gewerkschaften sowie Familien- und Wohlfahrtsverbände tätig. 2002 erarbeitete er für den damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) ein familienpolitisches Konzept. Was ihn bewegt, hat Borchert zuletzt in dem Buch „Sozialstaatsdämmerung“ aufgeschrieben, das in Kürze auch als Taschenbuch erscheint.
urteil“ des Bundesverfassungsgerichts führten. Borcherts Senat war es auch, der mit Erfolg das Verfassungsgericht anrief, die Berechnungen der Hartz-IV-Leistungen zu überprüfen. Die Karlsruher Richter verpflichteten den Gesetzgeber 2010, die Regelungen nachzubessern. Borchert ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim globalisierungskritischen Netzwerk Attac und als Berater für Parteien, Kirchen, Gewerkschaften sowie Familien- und Wohlfahrtsverbände tätig. 2002 erarbeitete er für den damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) ein familienpolitisches Konzept. Was ihn bewegt, hat Borchert zuletzt in dem Buch „Sozialstaatsdämmerung“ aufgeschrieben, das in Kürze auch als Taschenbuch erscheint.
ECHO: Das heißt, die Chancen sind denkbar gering, dass die Politik sich aufrafft und die von Ihnen skizzierten Benachteiligungen abschafft. Müssen es am Ende wieder die Gerichte richten?
Borchert: Die Familienverbände bemühen sich seit Jahren, in Karlsruhe erneut ein Urteil zu erwirken. Und zwar diesmal mit einem so klaren Auftrag, dass sich der Gesetzgeber nicht mehr entziehen kann. Politische Mehrheiten zugunsten von Familien wird es nicht geben, solange die betroffenen Familien nicht begreifen, was mit ihnen geschieht. Das Problem ist, dass sie mit Begriffen eingelullt werden, die die Dinge auf den Kopf stellen – etwa wenn Sie an die bereits angesprochenen vermeintlichen Wohltaten des Staates denken.
ECHO: Oder sind der Druck und die Unzufriedenheit der Familien mit ihrer Situation gar nicht so groß, um dagegen aufzubegehren?
Borchert: Der Druck in den Familien ist höllisch. Das belegen alle entsprechenden Untersuchungen.
ECHO: Wie ist Ihre Prognose für die Zukunft der Familien in Deutschland?
Borchert:
Wenn Familien ihre Interessen geballt und
mit Wucht hörbar machen würden, hätten wir schlagartig ein anderes
Sozialversicherungssystem. Aber vielen ist nicht bewusst, dass sie nicht
Leistungsempfänger sind, wie es ihnen die Politik weismachen will,
sondern entscheidende Leistungsträger in dieser Gesellschaft. Die
aktuelle Verteilungssituation hat sich schließlich über Jahrzehnte
verfestigt, und die darin angelegten Ungerechtigkeiten sind nicht auf
den ersten Blick zu erkennen. Das macht die Vertretung der eigenen
Interessen so schwierig. Die Hauptaufgabe einer zukunftsgerichteten
Familienpolitik dürfte darin liegen, zunächst einmal ein sprachliches
Großreinemachen zu veranstalten und die Sachverhalte, um die es geht,
korrekt beim Namen zu nennen.
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