04.11.13

Suizidpotential auf Grund von Trennung und Scheidung für Erwachsene und Kinder



Sandra Seubert: Suizidpotential auf Grund von Trennung und Scheidung für Erwachsene und Kinder


Scheidungen führen nicht nur zu finanziellen, persönlichen und familiären Herausforderungen, sondern nicht selten auch zu Suizid. Emile Durkheim schrieb bereits Ende des 19. Jahrhunderts neben der Religion und dem Staat vor allem auch der Familie einen protektiven Wert gegenüber dem Suizid zu. Diese Institutionen sorgen sowohl für Integration als auch Regulation. Stehen die beiden Komponenten nicht in Balance, erhöht sich das Suizidrisiko für das Individuum. Dementsprechend kann sowohl die nicht vorhandene Integration und Regulation aufgrund von Trennung, Scheidung oder Verwitwung, aber auch ein zu starkes Ausmaß der beiden Faktoren, wie dies beispielsweise in arrangierten Ehen der Fall ist, zu Suizid führen. Bis heute zeigt sich, dass jegliche Veränderungen des ehelichen Status, vor allem für Männer, ein Suizidrisiko darstellen.
So mancher selbsternannte Individualist wird als Single zum Pessimist


Im Zuge der Individualisierung werden Einpersonenhaushalte, Scheidungen, aber auch DINKS (Double Income No Kids) immer häufiger. Die Selbstverwirklichung steht für viele Menschen an erster Stelle. Hieraus können jedoch über kurz oder lang Einsamkeit, fehlende soziale Integration und im schlimmsten Fall suizidale Handlungen resultieren. Diese neuen Lebensformen sind ambivalent zu betrachten. Einerseits gewährleisten sie den Individuen mehr Freiheit, andererseits kann dies natürlich auch zu Einsamkeit führen. So kommt es immer häufiger vor, dass Singles (einschließlich getrennt lebenden, Geschiedenen und Verwitweten) ihre sozialen Kontakte nur noch unter der Woche in ihrem Beruf erleben und am Wochenende kaum Gesprächs- und Freizeitpartner haben. Diesen Personen fehlt es möglicherweise an der Integration, welche sie durch die Ehe erfahren würden. Genannte Personengruppe stellen der Forschung zufolge eine Risikogruppe für Suizid dar. 


Schützt Ehe vor Suizid?

Viele wissenschaftliche Studien stellen die These auf, dass die Heirat vor Suizid schützt, vorausgesetzt sie besteht ein Leben lang. Für Australien, Belgien, Kanada, Tschechien, Großbritannien, Finnland, Italien, USA und Deutschland wurde der Zusammenhang statistisch belegt. Trotz der wissenschaftlich belegten Schutzfunktion der Heirat geht die Anzahl der Eheschließungen in den letzten Jahren zurück. .Die Daten des Statistischen Bundesamts belegen den rückläufigen Trend der Eheschließungen in Deutschland. Während 1951 noch 10,3 Eheschließungen pro 1000 Einwohnern (EW) zu verzeichnen waren, liegt die Rate 2009 nur noch bei 4,6. Darüber hinaus ist jedoch anzumerken, dass trotz dieser Rückläufigkeit die Suizidrate in den letzten Jahren ebenfalls zurückgeht. Hierdurch wird deutlich, dass die Suizidalität multifaktoriell bedingt ist und der Familienstand einer von vielen ist.
Ausnahmefälle, in denen die Ehe keinen Schutz vor Suizid bietet, sondern das Risiko vielmehr verstärkt, stellen beispielsweise China, Japan und Taiwan dar. Anhand der Forschungsergebnisse zeigt sich, dass in asiatischen Ländern die Heirat kaum einen sicheren Schutz vor Suizid bietet, wie dies in den europäischen Ländern und der USA der Fall ist, vielmehr sind allein lebende Frauen in China und Indien besser vor Suizid geschützt. Dies ist unter anderem auf die Zwangsheirat und die hierbei verbotene Scheidung zurückzuführen, wodurch vor allem für Frauen der Suizid den einzigen Ausweg darstellt.  Die Frauen erfahren in der Ehe zu viele Vorgaben und Regulierungen, was in Durkheims Augen ebenfalls zu Suizid führt. Außerdem sind in diesen Gebieten die Eheschließungen häufig mit Mitgift verbunden. Wird diese nicht wie vereinbart an die Bräutigamseltern gezahlt, folgen Misshandlungen der Braut, welche das Suizidrisiko der Frauen erhöhen. Des Weiteren zeigen die wissenschaftlichen Studien, dass 40% der Suizidentinnen, die in einer Ehe leben, unter affektiven Störungen leiden. Bei unverheirateten Suizidentinnen wurden dagegen nur bei 30,6% Depressionen festgestellt. Ebenfalls zeigt sich, dass mit der Heirat die Integration in sozialen Netzwerken zurückgeht, eine hohe Eingliederung ist dagegen bei Unverheirateten festzustellen. Integration ist ein wichtiger Suizidschutzfaktor. Arrangierte Ehen bieten in diesen Gebieten keinen Schutz vor der freiwilligen Selbsttötung.


Risiken für Männer und Frauen nach Scheidung

Während das Suizidrisiko im Westen doppelt so hoch ist bei in Trennung lebenden Männern als bei Geschiedenen und 6,2mal höher als bei Verheirateten, liegt die Gefahr bei Frauen vor allem in der Scheidung. Genaue Zahlen liegen hierfür nicht vor. Dieser Trend ist unter anderem eventuell auf den hieraus resultierenden Statusschock zurückzuführen. Noch immer gehen viele Frauen in Folge einer Schwangerschaft nicht mehr vollständig ihrem Beruf nach, sondern übernehmen die Rolle der Mutter und Hausfrau. Im Zuge einer Scheidung sind diese nun auf die Unterhaltszahlungen ihres Ex-Mannes angewiesen. So können sich die Frauen möglicherweise nicht mehr den gewohnten Lebensstandard finanzieren und eine Art Hilflosigkeit tritt ein. Bei Männern sind andere Auslöser und Stressfaktoren im Zuge einer Trennung/Scheidung zu beobachten. Rund 2/3 aller Trennungen gehen von Frauen aus, Männer werden hierdurch sehr stark wirtschaftlich gefordert, da diese für den Unterhalt der Frau und den eventuell vorhandenen Kindern aufkommen müssen. Männer identifizieren sich noch immer stark über ihren Beruf und die Rolle als Ernährer der Familie, wodurch sie durch die finanzielle und psychische Belastung gekränkt werden.

Genannte Risikofaktoren bestehen unabhängig von Einkommen, Bildung, Religion oder ähnlichem. Es betrifft also alle Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Jedoch sind Unterschiede in den verschiedenen Altersgruppen festzumachen. So suizidieren sich am häufigsten die Männer in der Altersgruppe zwischen 25 und 34 Jahren in Folge einer Scheidung. Dieses Alter ist jedoch überraschend, da man davon ausgehen kann, dass sie noch Chancen auf neue Lebenspartner haben. Der aktuelle Forschungsstand verweist auf die stärkere Einflussnahme des ehelichen Status bei Männern als bei Frauen. Hieraus lässt sich ableiten, dass Männer sich sicherer in einer Ehe fühlen als Frauen.  Eine slowenische Studie aus dem Jahr 2011 kam zu dem Ergebnis, dass 46% der Suizidenten, die ihren Lebenspartner verloren haben, bereits innerhalb des ersten Jahres danach Suizid begehen. Die Zahl bei Ehescheidungen liegt bei 37%.
Ein weiterer Erklärungsversuch für die erhöhte Risikogefahr bei Männern im Falle von Scheidungen bezieht sich auf die hierdurch fehlende soziale und emotionale Stabilität. Durch die Scheidung fehlt es den Menschen generell an der Integration in soziale Netzwerke. Dies betrifft vor allem Männer, da sie allgemein weniger Organisationen angehören und weniger intensiv Freundschaften pflegen als Frauen. Letztgenannte werden durch die sozialen Kontakte im Falle einer Trennung besser aufgefangen und unterstützt. Die sozialen Kontakte gilt es über die Jahre hinweg zu pflegen. Männer realisieren das jedoch häufig erst im Falle einer Scheidung und müssen dieses soziale Leben zu pflegen erst lernen. Ein weiteres Problem, das sich für vor allem für die Männer ergibt, liegt in dem seltenen und häufig unregelmäßigem Kontakt zu den Kindern.


Scheidung bedeutet für Kinder Verletzung des Urvertrauens 

Die Scheidung birgt jedoch nicht nur für die Erwachsenen ein erhöhtes Suizidrisiko in sich, sondern erhöht auch das der betroffenen Kinder. Das Ärtzeblatt zitierte am 27. Januar 2011 eine Studie des Journal Psychiatry Research aus Toronoto. Hieraus geht hervor, dass „Erwachsene, die in jungen Jahren die Scheidung ihrer Eltern erlebt haben, denken öfter daran, sich das Leben zu nehmen, als Menschen aus intakten Familien. Dabei zeigen sich geschlechterspezifische Unterschiede, wobei die Männer unter den Scheidungskindern wesentlich häufiger zu Suizidgedanken neigten als die Frauen.“ Männer sind besonders stark von diesem einschneidenden Ereignis betroffen. Möglicherweise wird hierdurch ihr Urvertrauen verletzt, sie müssen mit dem Verlust des Vaters als Teil der Familie zurechtkommen. Außerdem brauchen Jungs den Vater für ihre Entwicklung, ihnen fehlt es an den sozialen Kontakten zum Vater und gleichzeitig dadurch an einem Leit- und Vorbild, der mit ihnen die männliche Rolle erlebt. Die Suizidgefahr ist Untersuchungen zufolge im Gegensatz zu ihrer Vergleichsgruppe um das 3-fache erhöht. Bei Frauen ist das Risiko demzufolge nicht so stark ausgeprägt. Das ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die Kinder in der Regel bei der Mutter bleiben und die Mädchen kein so großes Defizit wie Jungen bei Scheidungen erfahren. Durch das Leben mit der Mutter können die Mädchen, einfacher als ihre Brüder, ihre Identität finden.

Anhand der vorliegenden Fakten darf kein ökologischer Fehlschluss- also kein Rückschlüsse basierend auf Aggregatdaten- gezogen werden. Eine Änderung des Familienstandes führt nicht automatisch zu Suizid, auch schützt eine Ehe nicht grundsätzlich davor. Vielmehr kommt es darauf an, wie die Betroffenen mit diesen Stressfaktoren umgehen. Für viele Menschen sind eine Trennung bzw. Scheidung jedoch Auslöser eines Suizids. Die Daten und Zusammenhänge verdeutlichen, welche psychischen Auswirkungen solch eine Trennung sowohl für die Erwachsenen als auch für die Kinder in vielen Fällen mit sich bringt und im schlimmsten Fall zu Suizid führen kann.

Quellen:
Ide, Naiko et al. 2010: Separation as an Important Risk Factor for Suicide: A Systematic Review. In: Journal of Family, Volume 31, Issue 12, S.1689-1716

Roškar, Saška et al. 2011: Suicide Risk and Its Relationshipto Change in Marital Status. In: Crisis, Volume 32, Issue 1, S.24-30
http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/44463/Maennliche_Scheidungskinder_haben_haeufiger_Suizidgedanken.htm
http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Zeitreihen/LangeReihen/Bevoelkerung/Content75/lrbev06a,templateId=renderPrint.psml
Sandra Seubert im ISUV-Report 130

02.11.2013 - Kategorie Neuigkeiten


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