Das große Intereresse an den Fernsehbeiträgen über deutsche Jugendämter
gibt Anlass zur Bekanntgabe eines unveröffentlichen Essays (Dez. 2010) des Psychologie-Professors Dr. rer.nat. Wolfgang Klenner (Emeritus) der Universität Bielefeld.
Prof. Klenner, der seit 1950 als Gerichtsgutachter tätig ist, zeichnet darin den Wandel weg von der Nachbarschaftshilfe für den Mitmenschen hin zur Projektarbeit zur Bewältigung eines "Falles". Der Text trägt den Arbeitstitel:
"Der Wandel im Selbstverständnis der Sozialarbeit"
In den sozialen Diensten treffen mancherlei pädagogische und soziale Berufe zusammen, von denen den größten Einfluß jedoch die Sozialarbeiter, genauer deren sich im Laufe der Zeit mehrfach gewandeltes Selbstverständnis, haben.
Als sie sich noch Fürsorger oder Wohlfahrtspfleger nannten, war noch Frieden,
bis im Jahre 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach. Wenn auch nicht überall, so waren doch in manchen Gemeinden die Wohlfahrtspfleger oder Fürsorger für einen bestimmten Wohnbezirk zuständig. Ihre Dienststelle war das örtliche Wohlfahrtsamt, vereinzelt schon ein Jugendamt, gegründet im Gefolge des 1924 in Kraft getretenen Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG).
Durch ihre Nähe zur Bevölkerung genossen sie das Vertrauen der Menschen ihres Bezirks, zumal viele dieser Wohlfahrtspfleger oder Fürsorger einen karitativen oder humanitären Hintergrund hatten. Ihre soziale Arbeit verstanden sie als einen Dienst am Nächsten, auch wenn sie damit nicht unbedingt die christliche Nächstenliebe meinten. Es war Ausdruck des Respekts vor dem Schicksal des Anderen, der Rat und Hilfe brauchte.
Nicht wenige dieser Wohlfahrtspfleger und Fürsorger kamen aus der Wandervogelbewegung der sich vornehmlich die akademische Jugend der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts angeschlossen hatte. Daran schloß sich die bis in die Nachkriegszeit bestehende „Gilde soziale Arbeit“ an. Zwar war ich, meines andersartigen Berufsansatzes wegen, dort kein Mitglied, wurde aber als Gast zu den jährlich stattfindenden Tagungen eingeladen.
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 bis zu seinem Ende 1945 war die Sozialarbeit Sache der NSDAP. So begann eine tatsächlich neue Epoche der sozialen Arbeit erst durch die von den siegreichen Westmächten in Westdeutschland, seit 1949 als Bundesrepublik Deutschland, und zwar im Zuge der den Deutschen verordneten Reeducation (englisch) beziehungsweise Reéducation (französisch), auf Deutsch „Umerziehung“. So wurden die Grundlagen der angelsächsischen Sozialarbeit auf die damaligen westdeutschen Verhältnisse übertragen. So wurde der ’social worker’, als Sozialarbeiter eingedeutscht, mitsamt der Methodenlehre, die aus‚’social casework’ (soziale Einzelfallhilfe), ’social groupwork’ (soziale Gruppenarbeit) und ’social communitywork’ (soziale Gemeinwesenarbeit) bestand.
In dieser Nachkriegsepoche gingen aus dem ursprünglichen Wohlfahrtsamt das heutige Jugendamt und das Sozialamt hervor. Damals wurde überwiegend die Methode der sozialen Einzelfallhilfe angewandt, mit dem heute verblassten Credo der sozialen Dienste, „Hilfe zur Selbsthilfe“. Und Sozialarbeit wurde als helfende Beziehung verstanden. Jedoch gab es damals schon eine Gegenbewegung, die ihren Ausgang im Berlin zum Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nahm. So wurde an der mit dem Namen der Frauenrechtlerin Alice Salomon verbundene staatliche Ausbildungsstätte für Sozialarbeiter die „emotionale Distanz“ des Sozialarbeiters zu seinem Klienten gelehrt.
Also von Anfang an kein Vertrauensverhältnis, wie es beispielsweise der Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) als Grundlage psychologischer Berufstätigkeit fordert und damit auch keine Empathie (Einfühlung) in das Leiden der Rat- und Hilfesuchenden oder gar Leidenschaftlichkeit. Das berichtete mir 1976 eine in Berlin ausgebildete Sozialarbeiterin im Aufbaustudium der Heilpädagogik an unserem Institut für Heilpädagogik Bethel bei Bielefeld. Wohin das führen sollte, dessen Vorboten erlebte ich Anfang der siebziger Jahre bei einem Besuch der staatlichen Ausbildungsstätte für Sozialarbeiter in Dortmund, als deren Leiter Erwin Krämer, seinen Studierenden zurief: „Wir sind die Ingenieure der Gesellschaft!“
Das waren Vorboten des, ebenfalls aus angelsächsischen Quellen stammenden ’social engineering’, was nicht nur ein Wechsel der Bezeichnung bedeutet, sondern einen ganz anderen Inhalt hat. Denn nun ist der Klient nicht mehr der Mitmensch in besonderer Lebenslage, sondern er ist vergegenständlicht zum Fall geworden, dem mit einer Maßnahme beizukommen ist. Denn die Maßnahme ist das Merkmal des ’social engineering’, womit über den Rat- und Hilfesuchenden als Uneingeweihten, der das nur geschehen zu lassen hat, zwangsläufig verfügt werden muß. Erinnern wir uns: Es begann mit der individualisierenden sozialen Einzelfallhilfe, abwertend als Segregation oder Separation bezeichnet, und endet mit der Inklusion.
Es geht nun nicht mehr um das persönliche Schicksal des rat- und hilfesuchenden Menschen, denn er gilt jetzt als ein sozialer Faktor. Wie das im Alltag zugeht, zeigt das Beispiel der bei Gefahr im Verzuge unmittelbar vom Jugendamt zu ergreifenden, als Inobhutnahme bezeichneten Maßnahme eines Kindes gemäß § 42 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG).
Vor dem Inkrafttreten des KJHG musste vor einer Inobhutnahme die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts eingeholt werden. Auch bei Gefahr im Verzuge. Jetzt ist die Zustimmung des Familiengerichts unverzüglich nach erfolgter Inobhutnahme einzuholen. Wenn diese Maßnahme am rechten Ort und zur rechten Zeit ergriffen wird, ist das die einzige angemessene Vorgehensweise. Leider hat sie eine Kehrseite. So unkompliziert und unmittelbar, wie sie durchzuführen ist, so leicht schlägt die Inobhutnahme in der Hand gedankenloser sogenannter fallbeauftragter Fachkräfte alle guten Vorsätze zur Gewährleistung des Kindeswohls in den Wind. Meist ohne Ankündigung oder gar Vorbereitung unter Ausnutzung des Überraschungseffekts und immer in der Meinung, eine gute Tat zu tun, werden Neugeborene aus dem Wochenbett ihrer Mütter entführt, andere auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten oder von der Schule abgefangen, wenn sie nicht gar in einer Nacht- und Nebelaktion aus der elterlichen Obhut fortgerissen werden.
Als gerichtlich beauftragter Sachverständiger stellt man dann fest, hier sollten die Eltern geschlagen beziehungsweise gemaßregelt werden und die Kinder werden getroffen. Macht man darauf aufmerksam, dies zuerst aus der Sicht der Kinder zu verstehen, indem man sich durch Empathie (Einfühlung oder Takt und Fingerspitzengefühl) bemüht, die Welt mit den Augen des Kindes zu sehen, muß man mindestens darauf gefasst sein, damit auf Unverständnis zu stoßen.
Die Antwort kann auch, wie es mir am Ende einer solchen Erörterung widerfuhr, ganz einfach in dem Wort „Quatsch!“ bestehen. Tja, in einer solchen Mitarbeiterseele findet sich manches wieder; von der eigenen Kinderstube, von den Erfahrungen mit Kindergartenerzieherinnen und Lehrern sowie von der dem Geist der heutigen Zeit entsprechenden lediglich Kompetenzen vermittelnden, aber zu keiner Berufsethik verpflichtenden Ausbildung. So sieht es hinter den Kulissen aus.
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