23.03.12

„Schmerz, der nicht spricht, erstickt das volle Herz und macht es brechen.“ - Parental Alienation: The Ultimate Hate Crime (updated)




Wirkungen auf verschiedene Persönlichkeitsaspekte

Auf das Denken (kognitiver Bereich):

Fragen nach den Gründen der Trennung (Warum trennt ihr Euch?), Hypothesen unter Einbeziehung eigener Anteile (Schuld, z.B. die Eltern streiten sich wegen mir/ über die Erziehung) Orientierung über Beziehungen (Liebe kann unerwartet enden).

Wenden wir Erkenntnisse J. Piagets auf die Trennung an können wir Assimilationsprozesse (die Umweltgegebenheiten werden an die jeweilige Stufe der Denkentwicklung angepasst) finden, die beispielweise zu der Wirklichkeitswahrnehmung führen können, „alle Männer verlassen mich“ (jetzt und in Zukunft), oder Akkomodationsprozesse (die Denkform wird entsprechend den Erfordernissen des Problems abgeändert), beispielsweise: „An Weihnachten sitzt nicht hinter jedem beleuchteten Fenster eine vollständige, glückliche Familie“ Die zunehmende Fähigkeit (evtl. unterstützt durch Beratung)zu Reversibilität beschreibt den ständigen Wechsel zwischen Assimilation und Akkomodation, ermöglicht es, den Adaptionsprozess in einem Fließgleichgewicht zu halten und die sensorischen, motorischen und kognitiven Schemata zu erweitern. Dazu gehört auf der Beraterseite die Vorstellung, dass es sich bei der Trennung nicht (nur) um einen Desorganisationsprozess, sondern (auch) um einen Reorganisationsprozess handelt, beim nicht nur Defizite, sondern auch Ressourcen aktiviert werden können. Nicht alles ändert sich, nicht alles ist aus, verloren, sondern es kommt zu Veränderungen, Neuentwicklungen, Wachstumsimpulsen für alle Beteiligten (und „Eltern bleiben Eltern“).


Auf das Fühlen (emotionaler Bereich):

Angst vor Verlust und Einsamkeit (ich sehe
 meinen Papa nie wieder – verliere also den zweitliebsten Menschen, meine Welt bricht zusammen, wenn ein Elternteil mich verläßt, kann das auch mit dem zweiten passieren) Schmerz und Trauer (traumatisierender Verlust von Beziehung „dann war der Papa nicht mehr da“, Verlust von Identität „ich wußte nicht mehr, wer ich bin“, z.B. Halbierung des Selbstbildes, möglicherweise werden die <männlichen> Anteile des Selbst abgewertet)  

Shakespeare weiß schon in Macbeth: „Schmerz, der nicht spricht, erstickt das volle Herz und macht es brechen.

Wut und Aggression (fühle mich verlassen, verraten, nicht respektiert, Schuldzuweisung an einen Elternteil – Solidarisierung um Loyalitätskonflikt zu vermeiden) Schuld (wegen mir haben sie sich gestritten und getrennt, bei Abwehr der Schuld folgt Aggression oder Depression). Gefühle sind auch Bewältigungshilfen. „Trauern hilft dem Kind, mit dem erlittenen Verlust fertig zu werden und Trauer ist – außer bei Depressiven – grundsätzlich tröstbar. Das gekränkte Kind aktiviert bei den Personen der Umwelt Wiedergutmachungsbestrebungen und die Kränkung lässt sich eingrenzen und schließlich überwinden, wenn das Kind erfahren kann, dass es dem Vater, der Mutter immer noch viel bedeutet. Die Wut ist ein Affekt, der nur dann auftritt, wenn eine große Enttäuschung erlitten wurde. Enttäuscht kann aber nur jemand werden, von dem man etwas Angenehmes, von dem man Befriedigung und Liebe erwarten durfte.“ (Figdor Bd I, S.39)


Auf das Verhalten (aktualer Bereich): Es besteht die Neigung, das Auftreten und das Verschwinden von Symptomen gleichzusetzen mit dem Auftreten und dem Verschwinden der psychischen Probleme. Dadurch werden „stille“ Ausdrucksformen, Abwehr und neurotische „Hypotheken“ leicht unterschätzt (Überangepasstheit, Reaktionsbildung) Es kann übrigens auch zur Verringerung der Symptome kommen, weil die Konflikte und Spannungen zwischen den Eltern durch die Trennung abnehmen. Also: nicht jedes Kind mit scheinbar unauffälligen Anpassungsreaktionen ist „gesund“, bzw. hat keine Probleme mit der Trennung (auch wenn dieser Gedanke Eltern sehr entlastet – deshalb verhalten sich Kinder manchmal so), und nicht jedes auffällige Verhalten muss neurotisch sein.

Normale, partielle Regression misslingt, es kommt z.B. zu extremer Anhänglichkeit; dem Bestreben, die Mutter zu kontrollieren; Angst vor dem Alleinbleiben („Bleib in meiner Nähe“); Verlust an Selbstständigkeit, bereits entwickelter Autonomie; Weinerlichkeit und Trotz. Progression (ganz besonders vernünftig sein, um die Eltern zu entlasten, unauffälliges Verhalten (erhöht die „Illusion der Unbetroffenheit des Kindes“ bei den Eltern) statt Erlebnisreaktion als Anpassungsvorgang (Notreifung). „Jedes einigermaßen psychisch gesunde und normale Kind muß auf die Scheidung reagieren, selbst wenn sich nach außen hin keine Reaktion erkennen läßt.“ (Figdor Bd 2 S.24) Aggression und andere (Verhaltens-) Symptome. Figdor (Bd.2 S. 29) fasst dreierlei Arten von Symptomen zusammen: „Erstens: Die unmittelbaren spontanen Reaktionen auf die Konfrontation mit der Tatsache, dass Mama und Papa auseinandergehen. Das sind keine neurotischen Symptome im psychoanalytischen Sinn, sondern adaptive Reaktionen, sogenannte Erlebnisreaktionen, die auch wieder vorbeigehen können, wenn die damit verbundenen Befürchtungen sich allmählich angesichts der Realität mildern oder korrigiert werden.

Dann gibt es eine zweite schon ernstere Ebene von Symptomen. Sie treten auf, wenn diese mit den Erlebnisreaktionen verbundenen Ängste und Phantasien nicht bearbeitet werden können und es im Zusammenhang mit anderen Faktoren, z.B. dem Stress der Mutter, zu einem Zusammenbruch der Abwehr kommt. Dann handelt es sich nicht mehr um Reaktionen, sondern um eine massive Regression bzw. Destrukturierung der psychischen Organisation.

Wenn an dieser Stelle der Destrukturierung den Kindern (bzw. den Eltern) keine massive Hilfe geleistet wird, kommt es zu neurotischen Prozessen im klassischen Sinn: Die im Zuge der Regression auf frühe Konflikte aufbrechenden (frühinfantilen) Ängste werden
alsbald so quälend, dass die neuen (scheidungsspezifischen) und die alten (aufgebrochenen) psychischen Konflikte von neuem verdrängt, projiziert, somatisiert (und was es sonst noch alles an unbewußten Konfliktlösungsstrategien gibt) werden müssen.
Es kommt also zu posttraumatischen Abwehrprozessen, die insofern <unspezifisch> sind, als sie in jede bekannte neurotische Entwicklung münden können. Sind drittens, schon Störungen vorher sichtbar, reagieren die Kinder manchmal mit der Verstärkung dieser Symptome. Generell kann man sagen, dass das Scheidungstrauma umso größer sein wird, je massiver die innerpsychischen Konflikte des Kindes (bzw. die innerfamiliären Konflikte) schon vor der Scheidung waren.
Diese vorausgehenden (Bindungs-) Beeinträchtigungen werden häufig übersehen bei Untersuchungen zur Abschätzung von Scheidungsfolgen, auch deshalb weil in Dreiecksfamilien die Triangulierungsfunktion des Vaters dafür sorgt, dass Beziehungskonflikte „latent“ bleiben.“ Eine nicht unerhebliche Anzahl von Kindern, deren Eltern sich in deren ersten sechs Lebensjahren trennen, haben solche dispositionellen Benachteiligungen aus dem Familienleben vor der Trennung der Eltern. Die gut gemeinte Verschiebung des Scheidungszeitpunktes („... bis die Kinder größer sind“) muss die Frage der Beziehungsqualität der aufrecht gehaltenen Ehe mit beachten.

Anmerkung: Neben den intra- und interpsychischen Vorgängen spielen natürlich weitere „Umwelteinflüsse“ wie soziale Diskriminierung und Isolierung (z.B. in der Nachbarschaft, Verwandtschaft, Kirchengemeinde), Verschlechterung ökonomischer Verhältnisse, notwendige Schul-, Berufs- und Wohnverhältnisse, innerfamiliäre Mehrbelastungen und neue Abhängigkeiten (z.B. von der Herkunftsfamilie), eine nicht zu unterschätzende Rolle (z.B. bleibt weniger Kraft, Zeit, Geduld, Verständnis für das Kind), die hier jedoch auf Grund der psychologischen Akzentuierung nicht berücksichtigt werden.


Entwicklungspsychologische Hintergründe

Kindlicher Egozentrismus (siehe J. Piaget) Das Kind sieht die Welt nur aus der eigenen Perspektive und hat noch nicht die Fähigkeit zur Dezentralisierung. Es setzt alles Geschehen in Beziehung zu sich selbst. „Das hängt alles mit mir zusammen, ich bin der Verursacher der Trennung (ödipale Konkurrenzwünsche gehen in Erfüllung), oder der Schuldige (die Eltern haben sich immer wegen mir gestritten).“ Die Trennung wird auf das Scheitern ihrer Liebesbeziehung zum verlassenden Elternteil zurückgeführt. Die Annahme eigenen Versagens führt zur Einbuße beim Selbstwertgefühl mit oft langandauernden Folgen. Die Schuldzuweisung erfolgt dann an sich selbst (frustrierte Omnipotenzgefühle), es kommt zu (vergeblichen) Versöhnungs- und Vermittlungsversuchen. Die Bedeutung befriedigender sexueller Beziehungen u.a. Dimensionen erwachsener Partnerschaften können aus dem kindlichen Blickwinkel noch nicht verstanden werden.
Ambivalenzkonzept.

Erst im Laufe der Entwicklung verlässt das Kind die präambivalente Sichtweise („Eltern sind immer gut“) und kann gute und böse Aspekte in sein Vater- und Mutterbild integrieren. Für das Kind einfacher ist das Schwarzweiß-Denken („Mutter ist gut, Vater ist schlecht“), das manchmal auch von Elternteilen unterstützt wird (Abwehrvorgänge der Projektion und Spaltung sind beteiligt).
Magischer Realismus. Das Kind glaubt, durch bestimmte Handlungen und Rituale, auch Gebete, das Geschehen beeinflussen zu können (z.B. Gedanken/Wünsche, die neue Frau möge verschwinden, dann würde alles wieder gut, oder neurotisches Bravsein)

Geschlechtsrollenidentität.

Es tritt eine Verunsicherung gegenüber den primären Identifikations- und Liebesobjekten ein, die zu unabgeschlossener Individuation führen kann. Wallerstein/ Blakeslee u.a. beobachten Langzeitfolgen bei ehemaligen Scheidungskindern: Unsicherheiten bei Partnerwahl, erhöhte Bindungsängste, häufigere
Trennungen von Lebens- oder Ehepartnern. Aus der Sicht der Mutter repräsentiert beispielsweise der Sohn den abwesenden Mann und er weckt dadurch Wünsche und Aggressionen, die sich eigentlich auf den Expartner richten.

Entwicklungsstand. Neben der phasenspezifischen Trennungsdynamik, den verschiedenartigen Ausprägungen des jeweiligen Familiensystems und unterschiedlich entfalteten Persönlichkeitsmerkmalen beeinflussen auch Alter bzw. Entwicklungsstand des Kindes seine Reaktionsformen auf Trennung und Scheidung der Eltern. In Anlehnung an Wallerstein und Blakeslee kann man folgende Schwerpunkte finden:

- Kleinkinder (0-3): Sie können das Geschehen noch wenig kognitiv verarbeiten, sondern spüren stärker atmosphärische Veränderungen und reagieren sensomotorisch und psychsomatisch. Bindungsunsicherheiten (siehe Bowlby´s Bindungstheorie) werden zugrunde gelegt, Internalisierungsprozesse (Vaterimago) eingeschränkt, die Entwicklung stabiler Objektbeziehungen geschwächt, die Individuation bleibt unabgschlossen. Die kurzfristige Zeiterfassung erschwert die Objektkonstanz (14 Tage Zwischenpause sind zu lang).

- Vorschulalter (3-6): Die Angst, im Stich gelassen zu werden ist stark, Objektkonstanz ist erst kurz als Konzept entwickelt und das Kind hat auch die Beziehung der Eltern erst einige Jahre erlebt. Egozentrismus im Wahrnehmen und Denken (Piaget) verlieren sich erst langsam, das Kind glaubt dass die TuSch mit seinem Verhalten zusammenhängt. Realität und Phantasie sind noch sehr miteinander verbunden, so glaubt das Kind mit magischen Handlungen oder durch sein Wünschen und Verhalten die Eltern zum Bleiben bewegen zu können. Ödipale Phantasien werden auf die TuSch bezogen (Jungen: „Der Rivale <Vater> wird vertrieben - Hilfe, ich bin wirksam!“, Mädchen: „Mein geliebter Wunschpartner verlässt mich“)

- Grundschulalter (6-10):
Gefühle des Verlustes und des Zurückgewiesenseins werden stark empfunden. „Sie weinen und sind launisch. Sie fühlen sich innerlich leer und können sich nicht konzentrieren. In unserer Studie stellen wir bei der Hälfte der Kinder ein steiles Abfallen der schulischen Leistungen fest, das ungefähr ein Jahr andauerte.“ (a.a.O. S.334). Die Trennung wird oft als Kampf erlebt, Kinder fühlen sich zur Parteinahme verpflichtet, welche Loyalitätskonflikte zur Folge hat. Moralisch herrscht noch Schwarzweiß-Denken vor, dies erschwert komplexere Sicht auf das Geschehen und die Personen.

- Spätere Schuljahre (10-14):
Es herrscht nicht mehr so viel Angst vor, aber mehr Wut über das Geschehen („Das finde ich Mist - ich hau ab!“) und Distanz, Flucht aus der Situation und den Gefühlsschwankungen. Auch Somatisierungen aus Überlastung oder auch als Druckmittel (Bauchweh, Kopfschmerz, usw.) treten auf.

- Jugendliche (14-18):
Sie zeigen oft überraschend heftige Reaktionen. Sie sind gerade am Absprung, da rutscht ihnen der Boden weg. Besonders problematisch bei Auflösung und Veränderung des Haushalts, denn sie haben ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz, weil intrapsychisch durch das Anwachsen der Triebdynamik (Sexualität und Aggression) wenig Stabilität (ICH-Stärke) besteht und interpsychisch zu den Gleichaltrigen und besonders zu den andersgeschlechtlichen Bezugspersonen noch viel Unsicherheit existiert. Eigene Partnerschaftswünsche werden verunsichert („Auf Beziehungen kann man sich nicht verlassen“), man will die Fehler der Eltern nicht wiederholen. Manche suchen in eigenen Beziehungen zu Partnern und peergroups die verlorengegangene Nestwärme.



4. Familiendynamische Hintergründe

„Die Loyalitätskonflikte vergrößern die Schuldgefühle des Kindes, seine Ängste vor Liebesverlust und Vergeltung. Zusätzlich belasten sie sein Selbstwertgefühl, das durch Schuldgefühle, Ängste und das Erlebnis, verlassen worden zu sein, ohnedies schon schwer beeinträchtigt ist.“ (Figdor Bd.2 S.43)

Er sieht drei Möglichkeiten den inneren Konflikt abzuwehren. „Die erste ist eine sanfte Version der Ablehnung des Vaters, nämlich seine Abwertung. Die Abwertung kann sich sowohl auf die Person des Vaters beziehen oder auch auf die Bedeutung, die er für das Kind hat.... Die zweite Möglichkeit ist eine Art egozentrischer Wendung zum Selbst, ein mehr oder weniger starker libidinöser Abzug von den Liebesobjekten. Eine häufige Variante dieser „Delibidinisierung“ besteht darin, dass an die Stelle der Liebe ein egoistisches „Sich-nehmen“ tritt: Wenn ich durch meine Liebe nicht bekommen kann, was ich brauche, oder es mir so schwer gemacht wird zu lieben, wie ich lieben möchte, dann nehme ich mir wenigstens das, was sich aus dieser Situation herausholen lässt.... Die dritte Möglichkeit besteht in einer Abwertung der eigenen Person.“ (Figdor Bd.2 S.44) Das Kind fühlt sich auf Grund seiner Liebe zu den Eltern schwach, schlecht, schämt sich. Dies führt häufig auch zu Unsicherheiten, oder Zurückhaltung im Kontakt zu Gleichaltrigen.


Intergenerationale Scheidungstransmisson. Empirische Untersuchungen von H. Dietzenbach (Uni Leipzig) an 5020 Befragten zeigten: Bereits fünf Jahre nach der Heirat ist gut ein Viertel der Ehen geschieden, bei dem mindestens ein Partner beteiligt ist, dessen Eltern sich in seiner Kindheit scheiden ließen. Dagegen sind Ehen, in denen kein Partner aus geschiedenen Familien kommt, deutlich stabiler: Nach fünf Jahren bestehen von zehn noch neun.

Mögliche Erklärungsversuche: Trennung wird als mögliche Konfliktlösung eher gesehen und gewählt, die statistische Wahrscheinlichkeit auf einen potentiellen Partner mit Scheidungserfahrung (als Kind, Jugendlicher oder Erwachsener) zu treffen steigt auf Grund der steigenden Scheidungszahlen;
die Bildungsabschlüsse von Kindern geschiedener Eltern sind (zumindest in USA) niedriger (Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen gehen früher Partnerschaften ein, heiraten früher);
das Merkmal „Kind geschiedener Eltern“ führt zum Phänomen „2.Wahl“; materielle und emotionale Ressourcen sind geringer; elterliche Persönlichkeitsmerkmale, die zu deren Scheidung führten „pflanzen“ (tradieren) sich fort.


Robert Bögle

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