11.03.12

Kinder brauchen eine Sicherheit bietende Beziehung - Lernen aus Sicht der Hirnforschung

Der eigene Körper spielt bei Kindern eine ganz entscheidende Rolle. Er beeinflusst, was für jedes Kind am Anfang des Lebens wichtig ist, er beeinflusst, was oben im Hirn ankommt und was dort passiert. Deshalb begeistern sich Kinder auch so sehr, wenn es ihnen Schritt für Schritt gelingt, ihren eigenen Körper kennenzulernen, ihn immer besser selbst zu bewegen, zu lenken und zu steuern, um ihn schließlich am Ende ihres Entwicklungsweges zu beherrschen. Dann kann das Kind sich drehen, wenn es will, krabbeln, wenn es will, laufen, rennen, klettern, schwimmen oder Rad fahren. Und alles lernt es mit Begeisterung. Jedenfalls solange es von niemand daran gehindert und von niemand dazu gezwungen wird.

Und natürlich wird die Begeisterung an der Entdeckung des eigenen Körpers noch einmal zusätzlich verstärkt, wenn jemand da ist, der sich auch mit darüber freut, wenn wieder eine komplizierte Bewegung gelungen ist, wenn ein schwieriges Wort richtig ausgesprochen, ein Ton beim Singen genau getroffen worden ist. Denn auch das Sprechen und Singen ist Entdeckung des eigenen Körpers, in diesem Fall seiner Fähigkeit zur Lauterzeugung. Nichts aber unterdrückt die angeborene Lust am Entdecken des eigenen Körpers so nachhaltig wie eine Abwertung oder gar Beschämung durch eine emotional nahe stehende, besonders wichtige Person.

Und damit ist wiederum das Andere benannt, das Kindern am Anfang ihres Lebensweges so ungeheuer wichtig ist. Sie sind bereit, alles ihnen Mögliche zu tun und alle anderen Bedürfnisse zu unterdrücken, wenn ihnen dafür geschenkt wird, was sie mehr als andere brauchen, um leben, um wachsen, um die in ihnen angelegten Potenziale entfalten zu können: Zuneigung, Nähe, Verbundenheit.
Eine Sicherheit bietende Beziehung nennen das die Entwicklungspsychologen, und weshalb die nicht nur für Kinder so wichtig ist, wissen die Stressforscher inzwischen sehr gut. Ohne dieses Gefühl von Verbundenheit und Zugehörigkeit fühlen sich auch noch Erwachsene, aber in noch viel existenziellerer Weise kleine Kinder allein gelassen, verunsichert, ohnmächtig und hilflos allen Problemen und Schwierigkeiten des Lebens ausgeliefert. Das beherrschende Gefühl in solchen Situationen ist Angst. Auf körperlicher Ebene kommt es dann zu unkontrollierbaren Stressreaktionen, und an deren Auswirkungen würde ein Kind sterben, wenn es ihm nicht gelänge, eine Lösung zu finden.

Die einfachste, selbstverständliche und nahe liegende Lösung für alle Probleme, die ein Kind noch nicht selbst lösen kann, besteht darin, Hilfe zu holen. Aber um jemand herbeirufen zu können, der einem hilft, muss man jemand haben, der dann auch wirklich kommt, dem man vertrauen kann, mit dem man sich verbunden, bei dem man sich geborgen fühlt. Deshalb, weil sie gar nicht alleine überleben können, gewinnen all jene Menschen, die einem Kind zur Seite stehen und es auf seinem Weg begleiten, so eine ungeheure Bedeutung. Für diese Personen, also für Mama, für Papa, vielleicht auch für Geschwister oder ein anderes Familienmitglied und später für ihre Freunde, sind Kinder bereit, alles zu tun. Jedenfalls solange sie sich mit diesen Personen verbunden fühlen, solange sie noch nicht von ihnen oder durch sie enttäuscht, allein gelassen und abgewertet oder gar beschämt worden sind.

Das passiert allerdings schneller, als man es für möglich hält. Anfangs versucht jedes Kind lieber auf sein eigenes Bedürfnis zu verzichten, um es der Mama, dem Papa oder einem anderen recht zu machen. Jedes Mal, wenn ihm das gelingt und es sich so verhalten hat, wie es einer ihm wichtigen Person gefällt, geht im Hirn des Kindes die Begeisterungs-Gießkanne mit dem Düngerstrahl an, der die dabei aktivierten Netzwerke und Verschaltungen zum Wachsen bringt. So kann ein Kind zu einem Menschen heranreifen, der es später im Leben allen anderen immer nur recht machen will, der womöglich immer dann Angst bekommt, wenn jemand seine als Liebesdienst gemeinten Opfergaben nicht haben will oder braucht.

Bei all jenen Kindern, denen es beim besten Willen nicht gelingt, es der Mama oder dem Papa recht zu machen, geht die Dünger-Gießkanne im Hirn aber zwangsläufig immer dann an, wenn sie es wieder einmal schaffen, sich selbst zu beweisen, dass sie ihre Probleme sehr gut alleine, also ohne Mama, Papa oder sonst wen, zu lösen imstande sind. Dann haben sie es denen, mit denen sie bisher so eng verbunden waren, nun endlich einmal richtig gezeigt. Auch darüber kann man sich als Kind und als Erwachsener später so richtig begeistern. Und dann bekommt man eben auch ein Hirn, mit dem man anderen Menschen immer besser zeigen kann, wie wenig man sie braucht und dass man nichts mit ihnen zu tun haben will. Solche Deformationen kommen zustande, wenn Erwachsene auf die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern nicht adäquat reagieren.

Zwei Dinge brauchen die Kinder also besonders: das Gefühl der Geborgenheit – das erfüllen die Eltern und die Erwachsenen, wenn das Kind erlebt, dass es so, wie es ist, angenommen wird. Der zweite Wunsch nach Wachstum und Entwicklung kann erfüllt werden, wenn das Kind den dafür nötigen Raum bekommt.

Dieser Beitrag ist der vierte Teil des Vortrags “Geborgenheit, Freiheit, Begeisterung. Lernen aus Sicht der Hirnforschung” von Prof. Dr. Gerald Hüther im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe zur Neu-Erfindung der Familie. Der nächste Teil steht unter dem Titel “Eine funktionierende Familie muss zeigen, dass jeder gebraucht wird“.

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