11.03.12

Gefangene Kinder auch in Deutschland - Die Entwicklung des Kindschaftsrechtes und NOT-wendige Korrekturen

Hans-Christian Prestien, Familienrichter a. D.,  Februar 2012, Parkstr. 4, 14798 Havelsee, hans.christian.prestien@googlemail.com
Die Entwicklung des Kindschaftsrechtes und NOT-wendige Korrekturen
Die Rechtsstellung des Kindes

Nach BVerfGE vom 1.4.08 ist der Anspruch des Kindes, von seinen Eltern gepflegt und erzogen zu werden, ein Kindesgrundrecht (§§ 1626 Abs. 1 i.V.m. 1631 Abs. 1 BGB). Dem Kind stehen die Eltern als Schuldner gegenüber (vgl. BVerfGE 121,69, 92,93; dazu auch Jestaedt Sonderheft ZKJ 2011, 32, 34). 
Über die Einhaltung der Elternpflicht hat die staatliche Gemeinschaft zu wachen (BVerfG Bd. 24, 144, NJW 1982, 1379 ff):
„... Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG. 
Eine Verfassung, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertsystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren. 
In diesem Sinne bildet das Wohl des Kindes den Richtpunkt für den Auftrag des Staates gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ...“ 

Der zivile „Wächter“ ist 1998 zu Lasten des Kindes abgeschafft worden.
Bis 1998 konnte jede Person, die in irgendeiner Form persönliche Nähe zum Kind hatte, sich aktiv um gerichtliche Hilfe für das Kind bemühen. Seit 1998 gilt dies nicht mehr.

Die Situation der amtlichen „Wächter“ hat sich verschlechtert.
-        Die Spezialisierung des Vormundschaftsrichters auf die Fragen des Kinderschutzes und die Erweiterung seines Horizonts durch möglichst gleichzeitige Zuständigkeit für Jugendstrafsachen entfiel mit dem 1.7.98.
-        1998 wurde in Beschwerdeverfahren statt des ortsnahen Landgerichts das oft weit entfernte Oberlandesgericht zuständig.
-        2005 wurde in § 1791b BGB die absolute Nachrangigkeit der Amtsvormundschaft vor Einzelvormundschaft aufgegeben
-        Ab 1.9.09 wurde mit § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG das Verfahren für die Beschwerdeinstanz weiter formalisiert und „verschriftlicht“: „Das Beschwerdegericht kann von der Durchführung eines Termins, einer mündlichen Verhandlung oder einzelner Verfahrenshandlungen absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurden und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.“ 
-        Zu Lasten des Beschwerdeführers, der in der 2. Instanz unterliegt, errichtete das 2009 veränderte Kostenrisiko  weitere Barrieren (betrifft auch das Jugendamt, nicht jedoch den Verfahrensbeistand).
-        Die seit 1977 häufig veränderte Fassung des § 1696 BGB führt zu einer Verstärkung der statischen Wirkung einmal getroffener Entscheidungen entgegen den sich verändernden Lebenswirklichkeiten.
-        Die fachliche Kompetenz des Familienrichters sowie der MitarbeiterInnen der öffentlichen Jugendhilfe auf psychologischem, psychiatrischem bzw. pädagogischem Feld ist unverändert zufallsabhängig.
-        Bei der öffentlichen Jugendhilfe fehlt nach wie vor die Fachaufsicht. An Vorgaben des Familiengerichts ist sie nicht gebunden.

Ein besonderes Problem: Die Einbeziehung des Kindes und Achtung seiner Menschenwürde durch den/die RichterIn
Bei der verpflichtenden Einbeziehung von Kindern kann sich auf diesem Hintergrund der beabsichtigte Kinderschutz geradezu ins Gegenteil verkehren und zu einer psychischen Misshandlung von Kindern werden.
Karla, Gathmann und Klosinski berichten, dass nach ihren Erhebungen eine Einbeziehung des Kindes durch das Gericht im Durchschnitt erst ab einem Alter von 4,1 Jahren erfolgt. Die „Anhörung“ dauert nach dieser Erhebung zwischen 5 Minuten und 2 Stunden. Außerhalb des Gerichtsgebäudes ist sie „eher die Ausnahme“. Zum Inhalt der „Anhörungen“ wurde nichts berichtet („Zur Praxis der Kindesanhörung in Deutschland“ ZKJ - Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe 2010, 432).
Ähnliches wird von Prof Dr. Jopt berichtet. (Jopt: "Im Namen des Kindes" 1992 Verlag Rasch & Röhrig 1992, S. 107)

Die Vertretung des Kindes: der Verfahrensbeistand – ein Papiertiger
-        Der jetzige Verfahrensbeistand ist vom Richter, gegen den er notfalls Position beziehen muss, abhängig (§ 158 Abs. 1, 4 S. 3 FamFG).
-        Zum Verfahrensbeistand kann jeder ohne fachliche Kompetenz in den für die Kindesvertretung wichtigen Bereichen werden.
-        Keine Planungssicherheit  für den berufsmäßigen Verfahrensbeistand auf Grund der zufallsabhängigen  Bestellung und unzureichenden finanziellen Vergütung

Was wir zu einer besseren Wahrnehmung und zielgerichteten Unterstützung der Kinder in Notlagen beitragen können:
Einwirken auf Haltung und Arbeitsweise der Fachleute  durch Schaffung einer  unabhängigen interdisziplinär  besetzten Anwaltschaft des Kindes ( Projekt des VAK) mit Aufgaben wie
-        Durchführung regelmäßiger gemeinsamer Fachtage (Schulungen in Familienrecht, Jugendhilferecht, Arbeitsstrategien für das Jugendamt, Pädagogik, Psychologie; Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich Qualität der Beiträge nicht nur der Sachverständigen)
-        Aus- und Weiterbildung der Verfahrensbeistände im Familien- und Beistände im Jugendrecht
-        Unterstützung des Wächteramts durch Behörden und Gerichte, z.B. durch Führung eines Melderegisters bei Beziehungsabbrüchen zu Lasten von Kindern
-        Unterstützung des Richters, der Richterin zur unmittelbaren Kontaktaufnahme mit dem Kind und
seinem persönlichen Umfeld (Hausbesuch)
-        Erarbeitung von Standards für die Arbeit von psychologischen/psychiatrischen Sachverständigen
-        Integration der Beratungsstellen in das gerichtliche Verfahren

Anstöße zur Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen
Gerichtsorganisation und Verfahrensrecht:
-        Spezialdezernat für Kindschafts-, Jugend- und Jugendschutzsachen beim Amtsgericht (Erziehungsrichter)
-        Aus- und Fortbildungsvoraussetzungen für die dort eingesetzten RichterInnen
-        Bei einstweiligen Anordnungen zum Umgangsrecht und zum Sorgerecht des Kindes stets Durchführung eines Hauptverfahren
-        Wiederherstellung von Ortsnähe der Beschwerdeinstanz für Kindschaftssachen
-        Verpflichtung des Beschwerdegerichts, in Kindschaftssachen immer persönlich anzuhören (§§ 159 ff FamFG)
-        Kostenfreiheit bei Kindschaftsverfahren und Verschärfung der Verfahrenskostenhilfe für Erwachsene
-        Erweiterung des Kreises der Beschwerdeberechtigten zugunsten der Kinder
-        Keine Fristbindung für die Beschwerde
Bürgerliches Gesetzbuch:
-        Erleichterung der Abänderbarkeit getroffener Entscheidungen
-        Klarstellung, dass bei Abbruch der Beziehungen stets ein Verfahren zur elterlichen Verantwortung zu führen ist
-        Klarstellung, dass auch bei Adoption kein Bruch mit der Herkunftsfamilie erfolgen darf
-        Wiederherstellung von § 1791 b BGB a.F (vor 2005).
Jugendhilferecht:
-        Bindung an Entscheidungen des Gerichts zu Maßnahmen i.S.d. § 1666a BGB und zur Umgangsbegleitung
-        Aufgabentrennung bei dem öffentlichen Träger zwischen Beratung, Gerichtsbegleitung (in einer Hand bei Sorge- und Jugendverfahren), Vormundschaft und Inobhutnahme
-        Verschärfung der Pflicht der öffentlichen Jugendhilfe zur Rekrutierung, Fortbildung und Benennung von  ehrenamtlichen und berufsmäßigen Vormündern und Pflegern
-        Berichtspflicht an übergeordnete Behörde und Kinderkommission des Bundestages bezüglich Gewinnung von Vormündern und Pflegern sowie Fort- und Ausbildung der MitarbeiterInnen
-        Fach- und Rechtsaufsicht für Jugendämter

Eingestellt von Wahid Ben Alaya in Zusammenarbeit mit Heiderose Manthey


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