Das Gebäude am Glückstädter Jungfernstieg war historisch vorbelastet. Im 19. Jahrhundert hatte der Bau als Zuchthaus gedient, später wurde er als »Korrektionsanstalt«, von 1925 an als »Landesarbeitsanstalt« bezeichnet. Von 1933 an beherbergte das alte Gemäuer ein Arbeitslager für Häftlinge aus Schleswig-Holstein und Hamburg. Von Kriegsende bis 1949 war das Bauwerk dem Strafvollzug entzogen und diente als Lazarett, ehe es zum Landesfürsorgeheim wurde, in dem jugendliche Straftäter, Entmündigte und Sprösslinge überforderter Eltern unterkamen. 1980 wurde die Hauszeile abgerissen.

Das Landesfürsorgeheim in Glückstadt wurde am 31. Dezember 1974 geschlossen, als letzte Einrichtung dieser Art in der Bundesrepublik. Was sich hinter den Mauern abspielte, davon berichten nun ehemalige Insassen. Der Markthändler Otto Behnck und der Drehorgelverleiher Frank Leesemann haben sich ans Sozialministerium in Kiel gewandt. Ihren Schilderungen zufolge schloss die staatliche »Fürsorge« in Glückstadt in vielerlei Hinsicht bruchlos an die Praktiken in Nazideutschland an: Zwangsarbeit, regellose Gewalt, sogar die Anstaltskleidung der dreißiger Jahre soll weiter verwendet worden sein.

Otto Behnck stammt aus Bargteheide, einer nordöstlich von Hamburg gelegenen Kleinstadt. 1970, als 18-Jähriger, überwarf er sich mit seinen Eltern; er ließ sich die Haare lang wachsen und wollte in eine Wohngemeinschaft ziehen. Das zuständige Amtsgericht ordnete auf elterliches Drängen Fürsorgeerziehung an, obwohl Behnck nicht straffällig geworden war. Drei Monate lang, von Oktober 1970 bis Januar 1971, musste er in Glückstadt von morgens bis abends auf dem Dachboden Netze für die Heringsfischerei knoten. Statt einer Bezahlung bekam er ein paar Zigaretten, im Jargon der Insassen »Aktive« genannt.
Andere Jugendhäftlinge verrichteten ihren Arbeitsdienst in einer hauseigenen Schlosserei. Auch die Kommune wusste die unbezahlten Arbeitskräfte zu schätzen, die sie im Freibad, auf dem Friedhof, in Parkanlagen und auf dem Sportplatz einsetzte. Bei örtlichen Unternehmen und in der Landwirtschaft fanden die jugendlichen Zwangsarbeiter ebenfalls Verwendung.
Seinem Mithäftling Frank Leesemann, den Behnck in Glückstadt kennenlernte, war ein gestohlenes Mofa zum Verhängnis geworden. Von 1969 an verbrachte er über zwei Jahre in dem »Fürsorgeheim«. Leesemann war der Ausbrecherkönig von Glückstadt, von 25 Fluchtversuchen glückten ihm 16, doch jedes Mal, so berichtet er, sei er nach kurzer Zeit wieder aufgegriffen und zur Strafe in eine Isolationszelle im Keller gesperrt worden, die »Box«, wie sie unter den Zöglingen genannt wurde.
Die Box hat auch Rolf Breitfeld aus Berlin, Jahrgang 1948, kennengelernt. Er erinnert sich an ein kahles Verlies, darin eine Matratze mit Reichsadler und Hakenkreuz. Auch die Kleidung der Einzelhäftlinge stammte aus der Nazizeit. Bei seiner Entlassung schmuggelte Frank Leesemann ein Fischerhemd mit nach draußen, das noch den aufgestickten Schriftzug »Außenkommando Glückstadt« trug. Auch die Karteikarte mit der Nummer Z 1571 ist noch in seinem Besitz. Das ursprüngliche Wort »Arbeitserziehungsanstalt« war darauf durchgestrichen und durch den Begriff »Landesfürsorgeheim« ersetzt worden. Als Grund seiner Inhaftierung wurde dort vermerkt: »asozial, kriminell – kann sich der Gesellschaft nicht anpassen«.

Und immer wieder gab es Übergriffe des Personals. »Gewalt gehörte zum Alltag in Glückstadt«, sagt der heute 54-jährige Walter Nikoleth, der als Frührentner am Bodensee lebt. Nikoleth war von zu Hause abgehauen, kam schon früh mit dem Gesetz in Konflikt und wurde als 17-Jähriger in Bielefeld aufgegriffen, weil er sich mit zwei Mädchen herumtrieb, die polizeilich gesucht wurden, ehe er 1970 nach Glückstadt kam.
Vom 7. auf den 8. Mai 1969 gab es einen spontanen Aufstand im Heim, das zeitweise 160 Jugendliche beherbergte. Bettlaken und Matratzen wurden in Brand gesteckt, doch die Revolte wurde niedergeschlagen. Anschließend wuchs die Kritik am Sozialministerium in Kiel. Mit Umbaumaßnahmen und einer pädagogischen Schulung des Personals reagierte der damalige Sozialminister Otto Eisenmann (FDP). »Nur Kosmetik« sei das gewesen, sagt Otto Behnck. Am Erziehungsstil habe sich nichts geändert. »Die wollten unseren Willen mit allen Mitteln brechen.« Nach wie vor gab es Misshandlungen, sexueller Missbrauch sei vorgekommen. Behncks Eltern besuchten ihren Sohn 1970 zu Weihnachten und erwirkten, bestürzt über seine Berichte, per Gerichtsbeschluss seine Entlassung.

Inzwischen hat Otto Behnck sich juristischen Beistand gesucht, um eine Entschuldigung für das erlittene Unrecht und eine wenigstens symbolische Entschädigung zu erkämpfen. Es gibt inzwischen auch einen Verein ehemaliger Insassen von Fürsorgeheimen; frühere Heimkinder haben dem Petitionsausschuss des Bundestages von ihren Schicksalen berichtet. Die Grünen setzen sich für die Einrichtung einer Bundesstiftung ein; viele Mitstreiter haben sie bislang nicht.
In Kiel lädt Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD), die über die Folge der westdeutschen Heimerziehung promoviert hat, im Januar zu einem runden Tisch in Sachen Glückstadt ein. Viel Hoffnung auf eine Entschädigung, sagt sie, könne sie den früheren Insassen aber nicht machen.
Wie kommt es, dass die Opfer der Fürsorgeerziehung erst jetzt ihre Stimmen erheben? Manfred Kappeler, eremitierter Professor für Sozialpädagogik und vormals Leiter der sozialpädagogischen Fakultät der Berliner TU, spricht von langjähriger, wenn nicht gar lebenslanger Traumatisierung und Stigmatisierung der Opfer. Bisweilen brauche es einen äußeren Anstoß; so seien in Irland infolge eines preisgekrönten Films die skandalösen Zustände in den katholischen Schwesternheimen des Landes zum Thema geworden.

Das Ausmaß des Unrechts in Deutschland ist Kappeler zufolge gewaltig: »Hier sind Jugendliche in Heimeinrichtungen zu Sklavenarbeit ausgenutzt worden«, sagt er – bis Anfang der siebziger Jahre seien es »schätzungsweise 800000« gewesen.