Freistaat
- 02.11.12
- Lkr. Starnberg
- 2
Missbrauchsopfer verklagt Freistaat
München
– Prügel, Zwangsarbeit und sexueller Missbrauch – eine heute 72-Jährige
aus dem Kreis Starnberg ist als Heimkind schwer misshandelt worden.
Wegen ihres Traumas fordert sie jetzt Schadensersatz. Und zwar vom
Freistaat Bayern.
Die schlimmen Dinge, die
Eva R. (Name geändert) widerfahren sind, liegen Jahrzehnte zurück. Sie
sollen zwischen 1946 und 1956 in bayerischen Kinderheimen passiert sein.
Doch im Jahr 2008, als die Missbrauchsdebatte entbrannte, kam alles
wieder hoch. So sehr, dass Eva R. eine „Retraumatisierung“ erlitten hat.
Deshalb
klagt die 72 Jahre alte Frau aus dem Landkreis Starnberg jetzt wegen
körperlichen, seelischen und sexuellen Missbrauchs in den Heimen. Vor
dem Landgericht München I fordert sie 54 000 Euro Schadenersatz (plus
Zinsen) vom Freistaat Bayern – denn der habe die Heime nicht ordentlich
überwacht.
Die 72-Jährige ist nicht die
einzige, die in staatlichen und kirchlichen Heimen missbraucht wurde.
Erst im Juni klagten 80 Betroffene ihr Leid bei einer Anhörung im
Bayerischen Landtag – in der Hoffnung auf Entschädigung. Zuvor hatte
„Der Runde Tisch Heimerziehung“ über ein Jahr das Schicksal der
Heimkinder aufgearbeitet – über 2500 Opfer meldeten sich. Inzwischen
wurde ein Hilfsfonds eingerichtet. Dieser umfasst 120 Millionen Euro.
Bund, Länder und Kirchen haben je 40 Millionen Euro eingezahlt. In
München gibt es seit Anfang des Jahres eine Anlauf- und Beratungsstelle
für ehemalige Heimkinder.
Laut
Klageschrift musste Eva R. sechs Tage in der Woche Zwangsarbeit in der
Landwirtschaft und in der Wäscherei verrichten. Es habe Schläge und
Prügel gesetzt. Ohne Nahrung sei sie in dunkle Räume gesperrt worden.
Auch ein sexueller Missbrauch ist erwähnt, den ein Pfarrer außerhalb des
Heims begangen haben soll.
Wegen der
schlimmen Erlebnisse im Kinderheim leidet Eva R. noch immer an
psychischen Problemen. Die Erlebnisse würden bei einem Trauma verdrängt
und unzugänglich im Gehirn abgelegt, erklärt ihr Anwalt Robert Nieporte.
Durch die Missbrauchsdebatte 2008 sei der Körper wieder an die
traumatischen Ereignisse erinnert worden: eine Retraumatisierung. „Die
Klägerin ist wegen der Traumatisierung in psychologischer Behandlung und
Betreuung“, sagt Nieporte.
Der Vorsitzende
Richter Frank Tholl wollte wissen, was Eva R. konkret in den Heimen
erlitten habe. Doch das konnte der Anwalt nicht sagen: „Alles, was nötig
ist, um eine Klage zu formulieren, kann im Hirn gar nicht abgerufen
werden.“ Er fordert ein psychiatrisches Gutachten.
Der
Freistaat lehnt die Schmerzensgeldforderung ab. So habe es damals keine
einheitliche Heimaufsicht gegeben. In den 1940er- und 50er-Jahren galt
laut Gericht noch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922, geändert
1939. Darin gibt es keine Regelungen zur Aufsicht. Ein entsprechendes
Gesetz gibt es erst seit 1962. Davor seien die Gemeinden zuständig
gewesen, erklärt Paul Fronhöfer, Anwalt des Freistaats. Die Kommunen
würden persönlich haften. „Wie kommen Sie auf den Freistaat?“, wollte er
von der Gegenseite wissen. Außerdem habe es sich um kirchliche Heime
gehandelt.
Das Gericht sieht weitere
Probleme. Vor allem das der Verjährung. So schlimm die Misshandlungen in
den Heimen gewesen sein mögen – nach all den Jahren dürfte die
„absolute, 30-jährige Verjährung“ eingetreten sein, sagt der Vorsitzende
Tholl. Das Gericht berät sich und entscheidet Ende November.
Nina Gut
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