Die Staatsanwaltschaft
Traunstein ermittelt gegen das Kinderheim "Haus Maria“ in Au am Inn -
wegen Freiheitsberaubung. Es sollen Genehmigungen für die geschlossene
Unterbringung der geistig behinderten Kinder gefehlt haben.
Die Einschlussprotokolle und Tagespläne, die dem
Bayerischen Rundfunk vorliegen, erinnern eher an ein Gefängnis als an
ein Kinderheim. Ein Novembertag im Leben eines Jungen beginnt
beispielsweise damit, dass er morgens eine Stunde in sein Zimmer
eingesperrt wird und alleine frühstückt.
Im handschriftlich ausgefüllten Protokoll heißt es
über den Verlauf des Einschlusses: "ruhig". Der Grund: "ELT". Das steht
für "Einschluss laut Tagesplan". 16 mal wird der Junge an diesem Tag
eingesperrt, 16 mal mit dem "Grund", dies sei sein Tagesplan. Er bekommt
eine Brotzeit, Mittagessen, Abendessen alleine im Zimmer, schließlich
erfolgt von 19.30 Uhr bis 6.10 Uhr der Nachteinschluss.
Nachtruhe im Kastenbett
Auch Franz Kurzmeier hatte die Aufgabe, Kinder in
ihre Zimmer zu sperren. 2012 hat er ein halbes Jahr lang im Haus Maria
gearbeitet, das zum Franziskushaus im oberbayerischen Au am Inn gehört.
Einzelne Kinder haben im sogenannten Kastenbett geschlafen, berichtet
er: einem käfigartigen Holzverschlag mit Luftlöchern.
"Ein Mädchen zum Beispiel war von 19.30 Uhr bis 6.30 Uhr in das Kastenbett eingesperrt. Das ist für mich so lange OK, so lange das Kind jederzeit raus kann. Aber da ist halt dagegen gepoltert worden, weil das Kind raus wollte und nicht können hat! Mir sind erhebliche Zweifel gekommen, ob das alles so sein kann und deshalb habe ich Anzeige erstattet."
Franz Kurzmeier, Heilerziehungspflegehelfer
Denunziation?
Bereits Ende 2012 haben Staatsanwaltschaft und Kripo
das Haus Maria durchsucht und Unterlagen beschlagnahmt. Doch die
Ermittlungen wurden mehrfach wieder eingestellt. Darauf beruft sich das
Heim. Auf Nachfragen des Bayerischen Rundfunks teilt die
Geschäftsführung schriftlich mit, man fühle sich von dem ehemaligen
Mitarbeiter denunziert.
"Als Träger des Franziskushauses Au am Inn weisen wir die erhobenen Vorwürfe von Herrn Kurzmeier als bereits erwiesen unwahr zurück."
Stellungnahme des Franziskushauses Au am Inn
Ist Franz Kurzmeier tatsächlich nur ein geschasster Mitarbeiter, der sich an seinem früheren Arbeitgeber rächen will?
Ein Interview mit den Verantwortlichen des Heims ist
nicht möglich, doch die Heimleitung ist bereit, die Einrichtung zu
zeigen. Hinter dicken Klostermauern, die selbst im Sommer die Hitze
verschlucken, liegt das Kinderheim Haus Maria. Träger ist die
Kongregation der Franziskanerinnen von Au am Inn. Darin leben zurzeit 18
Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen wie frühkindlichem
Autismus und anderen psychischen Störungen.
Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Freiheitsberaubung
Bedrückend wirkt: Alle Kinder im Haus Maria leben in
der geschlossenen Abteilung hinter zugesperrten Türen, sie dürfen das
Kloster nur in Ausnahmefällen verlassen, sehen ihre Eltern gerade jedes
zweite Wochenende. Eine solche Unterbringung muss von einem Richter
genehmigt werden. Unterlagen, die dem Bayerischen Rundfunk vorliegen,
weisen aber eindeutig darauf hin, dass über Monate erforderliche
Genehmigungen gefehlt haben.
Im Sommer 2015 hat die Staatsanwaltschaft Traunstein
das Ermittlungsverfahren gegen das Kinderheim wieder aufgenommen. Der
aktuelle Vorwurf: "Freiheitsberaubung zum Nachteil der Kinder und
Jugendlichen, die in den geschlossenen Stationen untergebracht sind".
Auch der Petitionsausschuss des Bayerischen Landtags hat sich bereits
mit dem Fall beschäftigt. Haben die Betreuer im Heim möglicherweise ihre
Macht missbraucht?
Franziskushaus Au am Inn: Zentrum für behinderte Kinder
Das Franziskushaus Au am Inn ist ein Zentrum für die
Betreuung und Förderung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher.
Unter dem Dach des Franziskanerinnenklosters befinden sich eine
Frühförderstelle des Landkreises Mühldorf am Inn. Außerdem ein
heilpädagogischer Kindergarten, eine Schule, ein Tagesheim sowie das
heilpädagogische Kinderheim "Haus Maria", in dem derzeit 18 geistig
behinderte Kinder und Jugendliche leben. Gegen das Kinderheim ermittelt
die Staatsanwaltschaft Traunstein wegen Freiheitsberaubung.
Weggesperrt "nach Tagesplan"
In den beschlagnahmten Akten offenbart sich der
Heimalltag. Darin steht zu lesen, dass Kinder weinen und jammern,
während sie eingesperrt in ihren Zimmern sitzen. Den Unterlagen aus dem
Jahr 2012 zufolge ist es vorgesehen, dass einzelne Heimbewohner bis zu
22 beziehungsweise bis zu 24 Stunden am Tag ins Einzelzimmer gesperrt
werden können. Einschlüsse zur "Struktur" oder "laut Tagesplan" streitet
das Heim nicht ab. Nach eigenen Angaben konnten aber alle
"deeskalierenden Maßnahmen" mittlerweile um etwa die Hälfte reduziert
werden. Die Geschäftsleitung spricht von einem "präventiven" Vorgehen
und bezeichnet das Einsperren in einer schriftlichen Stellungnahme als
"Pausezeiten".
"Regelmäßige Pausezeiten, während des Tages im eigenen Zimmer dienen der Beruhigung, Entspannung und Erholung des Kindes bei Überforderung, Reizüberflutung, Unruhezuständen und leichten aggressiven Anfällen."
Stellungnahme Franziskushaus Au am Inn
Das Heim fühlt sich im Recht. Die Kinder seien
geistig schwer behindert, seien zum Teil auch aggressiv, hyperaktiv,
depressiv und kontaktgestört, hätten Angstzustände und
"Weglauftendenzen". Diese Kinder seien nicht in der Lage, in anderen
Wohnformen zu leben, glaubt man in Au am Inn. Das Kinderheim Haus Maria
biete einen "beschützenden Rahmen".
Tagesablauf: Einschluss
Kinderrechtsexperten sind gegen Extremmaßnahmen
Einsperren als Form der Therapie?
Kinderrechtsexperten sehen das anders. Professor Jörg Fegert, ärztlicher
Direktor am Universitätsklinikum Ulm und Präsident der Deutschen
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und
Psychotherapie, hält Zwangsmaßnahmen wie Einsperren und das Fixieren mit
Gurten nur in Ausnahmefällen für gerechtfertigt.
"Es ist ja eine Ultima Ratio, und immer eigentlich nur, wenn es um Leib und Leben geht, können wir zu solchen Extremmaßnahmen greifen und da müssen wir auch noch schauen: Können wir nicht doch durch hohen Personaleinsatz Zwang vermeiden?"
Professor Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Ulm
Systematischer Freiheitsentzug "zur Tagesstruktur"
sei unvereinbar mit den Rechten und auch mit der Würde von Kindern, sagt
der Kinderschutzbund. Auch Maria Kaminski, die Vorsitzende des
Bundesverbands Autismus Deutschland ist entsetzt über die Methoden im
Haus Maria. Sie ist selbst Mutter eines Sohnes mit frühkindlichem
Autismus.
"Das hat ja keinen pädagogischen Effekt, davon lernt das Kind gar nichts, es wird nur verstörter, unruhiger, ängstlicher und aggressiver. Gewalt erzeugt immer Gegengewalt."
Maria Kaminski, Bundesverband Autismus Deutschland
Und auch die Vorsitzende des Deutschen
Familiengerichtstags, Isabelle Götz, ist erschüttert über die Zustände
im Haus Maria: Geistig behinderte Kinder ins Zimmer zu sperren dürfe auf
keinen Fall zur Alltagsroutine werden - und Kinderheime sollten in der
Lage sein, mit hohem Personaleinsatz solchen Zwang zu vermeiden, sagte
sie dem Bayerischen Rundfunk.
Regeln für den Freiheitsentzug
Freiheitsbeschränkende Maßnahme
Das sind Zwangsmaßnahmen, die Heimmitarbeiter innerhalb einer
Einrichtung anwenden, beispielsweise das Zusperren der Zimmertür, das
Fixieren eines Kindes mit Gurten oder das Isolieren in sogenannten
Time-Out-Räumen, das sind kahle fensterlose Zimmer ohne Möbel und
Spielzeug. Im Gegensatz zur freiheitsentziehenden Unterbringung ist bei
den genannten Zwangsmaßnahmen nur die Einwilligung der Eltern nötig.
Nach derzeitiger Rechtslage müssen sie nicht vom Gericht genehmigt
werden.
Freiheitsentziehende Maßnahme
Das Problem ist: Offenbar gibt es extrem große
rechtliche Spielräume für die sogenannten freiheitsbeschränkenden
Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen. Das bayerische Justizministerium
schreibt auf BR-Anfrage, es könne zulässig sein, Kinder ins Zimmer zu
sperren oder zu fixieren, um "Tagesstrukturen oder Ruhezeiten"
einzuhalten.
Haben Betreuer in Behindertenheimen also die Macht,
Kinder festzubinden und wegzusperren, wenn es ihnen gerade in den
Tagesplan hineinpasst?
Rechtslage öffnet "Missbrauch Tür und Tor"
Eine ganze Reihe von Experten und Verbandsvertretern
ist über die Rechtslage sehr besorgt, wonach nur die Zustimmung der
Eltern notwendig ist, um ein Kind im Heim zu fixieren oder ins Zimmer zu
sperren. Professor Jörg Maywald von der National Coalition Deutschland,
die sich für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention einsetzt,
warnt vor einer Grauzone, in der niemand mehr die Interessen des Kindes
im Blick habe, nicht einmal mehr ein Gericht.
"Das öffnet natürlich auch Missbrauch Tür und Tor. Weil Eltern - es geht um sehr belastende Familienverhältnisse - auch manchmal nicht mehr das beste Interesse ihres Kindes im Blick haben und auch Einrichtungen haben ja Eigeninteressen im Sinne eines guten Funktionierens."
Professor Jörg Maywald, National Coalition Deutschland
Diese Sorgen sind mittlerweile auch im
Bundesjustizministerium angekommen. Eine Sprecherin schreibt auf Anfrage
des Bayerischen Rundfunks, man stehe im intensiven Dialog mit
medizinischen und juristischen Experten zum Thema. Nach eingehender
Prüfung werde es sich zeigen, ob und gegebenenfalls welche Änderungen
der Gesetze zum Schutz der Kinder erforderlich sind.
Förderer
Das Franziskushaus in Au am Inn hat von einer ganzen
Reihe von Förderern finanzielle Unterstützung bekommen: unter anderem
von der Regierung von Oberbayern, der Bayerischen Landesstiftung, dem
Oberbayerischen Volksblatt und auch vom Verein Sternstunden, der
Benefizaktion des Bayerischen Rundfunks. 2009/2010 hat Sternstunden den
Neubau des Kinderheims mit Spendengeld gefördert - das war allerdings,
bevor Vorwürfe aufkamen.
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