05.12.14

BVerfG: Mangelhaftes Gutachten rechtfertigt keinen Sorgerechtsentzug

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Kindes- und Sorgerechtsentzug, (Beschwerdeführer = Vater)
Quelle: http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20141119_1bvr117814.html

Mangelhaftes Gutachten rechtfertigt keinen Sorgerechtsentzug

Fachanwalt für Familienrecht
Bundesverfassungsgericht
in einem aktuellen Urteil des Bundes-verfassungsgerichts zeigt sich wieder einmal, das Gutachten häufig mangelhaft sind und Richter in den unteren Instanzen (Familiengerichte, Oberlandesgerichte) sich leider all zu oft auf die mangelhaften Gutachten verlassen. Das Verfassungsgericht stellte jedoch fest: Mangelhafte Gutachten rechtfertigen keinen Sorgerechtsentzug. Gerichte dürfen sich nicht auf mangelhafte Gutachten verlassen. Gerichte müssen bei Zweifeln am Gutachten darlegen, warum sie Gutachten gleichwohl für verwertbar halten.

Im Namen des Volkes



In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde
des Herrn D…,
– Bevollmächtigte: Müller Rechtsanwälte, Münsterstraße 4, 48231 Warendorf
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 6. Februar 2014 – II-6 UF 177/13 -,
b) den Beschluss des Amtsgerichts Paderborn vom 17. September 2013 – 84 F 34/13 –
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
  • den Vizepräsidenten Kirchhof
  • den Richter Eichberger
  • und die Richterin Britz
am 19. November 2014 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Amtsgerichts Paderborn vom 17. September 2013 – 84 F 34/13 – und der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 6. Februar 2014 – II-6 UF 177/13 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm wird aufgehoben und die Sache wird an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.


Gründe:
I.
Der Beschwerdeführer (Anmerkung = der Vater) wendet sich dagegen, dass ihm – wie auch der Mutter – die elterliche Sorge für eine im Februar 2013 geborene Tochter entzogen und auf das Jugendamt übertragen wurde.
1. Der Beschwerdeführer stammt aus G. und lebt seit Anfang 2012 zunächst als Asylbewerber, inzwischen geduldet in Deutschland. Die Mutter leidet unter gravierenden psychischen Erkrankungen, keines ihrer vier älteren Kinder lebt bei ihr. Sie wurde in den Monaten vor der Entbindung in einem Mutter-Kind-Heim betreut. Der Beschwerdeführer und die Mutter haben sich noch während der Schwangerschaft getrennt, der Beschwerdeführer hat eine neue Lebensgefährtin.
Im Oktober 2012 haben der Beschwerdeführer und die Mutter vorgeburtlich eine Vaterschaftsanerkennung und gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben.
a) Unter Verweis auf die psychische Situation der Mutter und die nicht transparente Wohn- und Lebenssituation des Beschwerdeführers regte das Jugendamt unmittelbar vor dem voraussichtlichen Geburtstermin an, den Eltern das Sorgerecht zu entziehen. Das Amtsgericht entzog daraufhin beiden Eltern im Wege der einstweiligen Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge und das Recht zur Beantragung öffentlicher Hilfen und bestellte das Jugendamt zum Ergänzungspfleger.
Mitte Februar 2013 wurde die Tochter des Beschwerdeführers geboren. Sie wurde nach der Entlassung aus dem Krankenhaus in einer Pflegefamilie untergebracht, wo sie seitdem lebt. Anfang Mai 2013 traf das Amtsgericht eine Umgangsregelung, nach der begleitete Kontakte stattfanden.
b) Im hier verfahrensgegenständlichen Hauptsacheverfahren beantragte der Beschwerdeführer, ihm das alleinige Sorgerecht zu übertragen.
aa) Das Amtsgericht gab ein Sachverständigengutachten dazu in Auftrag, ob die Eltern in der Lage seien, das körperliche, geistige und seelische Kindeswohl sicherzustellen und somit erziehungsfähig seien. Die Sachverständige hielt die Mutter für krankheitsbedingt erziehungsunfähig und den Beschwerdeführer nur teilweise für erziehungsfähig; sie empfahl, das Kind weiterhin in einer Pflegefamilie unterzubringen.
Nach mündlicher Verhandlung entzog das Amtsgericht mit Beschluss vom 17. September 2013 beiden Eltern die gesamte elterliche Sorge und bestellte das Jugendamt zum Vormund. Das Kindeswohl sei gefährdet. Die Mutter sei krankheitsbedingt erziehungsunfähig. Der Beschwerdeführer sei derzeit nur eingeschränkt erziehungsfähig. Dies habe die Sachverständige, welche dem Gericht auch aus anderen Verfahren als kompetente und erfahrene Gutachterin bekannt sei, in ihrem schlüssigen, nachvollziehbaren und uneingeschränkt verwertbaren Gutachten festgestellt, dem das Gericht sich vollumfänglich anschließe.
Der Beschwerdeführer könne derzeit das körperliche, geistige und seelische Wohl der Tochter nicht sicherstellen. Es fehle ihm (noch) an Kernkompetenzen bei der Kindeserziehung. Ihm habe nach den Ausführungen der Sachverständigen in den von ihr beobachteten Umgangskontakten oft die Fähigkeit gefehlt, auf die konkreten Bedürfnisse des Kindes einzugehen. So habe er mehrmals versucht, das Kind mittels Schütteln auf dem Arm zu beruhigen, was alle Beteiligten als dem Alter der Tochter unangemessen beschrieben hätten.
Bei dem Beschwerdeführer liege weiter eine erhebliche Bindungsintoleranz in Bezug auf die Mutter vor, denn er habe ausdrücklich bekundet, sich nur seine derzeitige Lebensgefährtin als Mutter der Tochter vorzustellen, die Kindesmutter tauche in der Lebensplanung nicht mehr auf.
Zudem sei sein aufenthaltsrechtlicher Status nach wie vor nicht endgültig geklärt. Zwar löse dies allein keine Kindeswohlgefahr aus. Die damit verbundene ungewisse wirtschaftliche und räumliche Situation wiege aber schwer und stelle nach den nachvollziehbaren Bekundungen der Sachverständigen auch eine Kindeswohlgefährdung dar, weil es bei dem Kind in erster Linie auf feste Strukturen im Alltagsleben ankomme.
Die Einstellung des Beschwerdeführers zum deutschen Rechts- und Wertesystem sei derart problematisch, dass er derzeit sicher kein Vorbild für das Kind darstellen könne. So scheine er nicht einmal einzusehen, dass sein Aufenthalt in Deutschland bis vor kurzem noch illegal war. Er ziehe afrikanische Erziehungsmethoden den europäischen Standards vor und distanziere sich nicht von der selbst erlebten, teilweise gewalttätigen Erziehung.
Andere Maßnahmen kämen nicht in Betracht. Das Kind entwickle sich in der Pflegefamilie gut.
bb) Der Beschwerdeführer legte Beschwerde gegen diese Entscheidung ein. Das Oberlandesgericht holte Stellungnahmen des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin ein. Von einer mündlichen Verhandlung sah es ab.
Mit Beschluss vom 6. Februar 2014 wies das Oberlandesgericht die Beschwerde zurück. Zur Begründung verwies es auf die in der Sache und in den Gründen zutreffende amtsgerichtliche Entscheidung. Das Kindeswohl sei gefährdet, wenn das Kind in der Obhut des Beschwerdeführers lebe. Seine Erziehungsfähigkeit sei nach den überzeugenden und verwertbaren Ausführungen der Sachverständigen so eingeschränkt, dass eine Fremdunterbringung erforderlich sei und mildere Maßnahmen nicht in Betracht kämen. Dem Beschwerdeführer mangele es nach den überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen an den Fähigkeiten und Fertigkeiten, um die körperliche Versorgung des Kindes sicherzustellen. So habe er mehrmals versucht, seine Tochter durch Schütteln zu beruhigen. Es mangele auch an einer ausreichenden Zuwendung und Stabilität emotionaler Beziehungen. In der Interaktion habe sich nach den überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen gezeigt, dass der Beschwerdeführer die Schwierigkeiten und physischen Defizite des Kindes und auch ihre Entwicklungsfortschritte nicht erkenne und nicht adäquat reagiere. Es fehle die Fähigkeit, feine Signale des Kindes zu erkennen und dessen emotionale Bedürfnisse angemessen wahrzunehmen. Seine Bindungstoleranz sei eingeschränkt, denn nach den Feststellungen des Amtsgerichts tauche die Mutter in der Lebensplanung nicht mehr auf. Vielmehr stelle sich der Beschwerdeführer vor, dass seine jetzige Lebensgefährtin die Mutterrolle übernehme.
Die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wurde im April 2014 zurückgewiesen.
Ende April 2014 wurde das Bereitschaftspflegeverhältnis für die Tochter in eine Dauerpflege in derselben Familie umgewandelt.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 sowie von Art. 103 Abs. 1 GG. Sein Elterngrundrecht sei verletzt, weil die Voraussetzungen für eine Entziehung des Sorgerechts nach Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG nicht vorlägen. Im ganzen Verfahren sei nicht festgestellt worden, welche konkreten Bedürfnisse des Kindes der Beschwerdeführer nicht erfüllen könne. Seine Erziehungsfähigkeit sei nicht eingeschränkt, auch ein schwerwiegendes Fehlverhalten sei nicht festgestellt worden. Es treffe nicht zu, dass wegen seines Aufenthaltsstatus keine ausreichende Kontinuität sichergestellt sei, denn er hätte als sorgeberechtigter Vater Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Möglichkeiten staatlicher Erziehungshilfe seien gar nicht in Erwägung gezogen worden, obwohl das Gutachten auf diese Möglichkeit hinweise.
3. Die Akten des Ausgangsverfahrens (Hauptsache) lagen dem Bundesverfassungsgericht vor. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Land Nordrhein-Westfalen, der Verfahrensbeiständin aus dem Ausgangsverfahren, dem Jugendamt als Vormund und der Mutter Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Das Land hat von einer Äußerung abgesehen, Mutter und Verfahrensbeiständin haben sich nicht geäußert. Das Jugendamt sprach sich dafür aus, das Kind in der Pflegefamilie zu belassen. Es äußerte Zweifel an der Erziehungseignung des Beschwerdeführers. Außerdem stelle ein Beziehungsabbruch mit den Pflegeeltern eine deutliche Kindeswohlgefährdung dar. Einen Wechsel zum Beschwerdeführer solle erst geprüft werden, wenn die Tochter die nötige Reife erlangt habe, tragfähige Entscheidungen zu treffen, und sie dann beim Beschwerdeführer leben wolle.
II.
Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des als verletzt gerügten Elternrechts des Beschwerdeführers angezeigt ist, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Diese Entscheidung kann von der Kammer getroffen werden, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde danach offensichtlich begründet ist, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.
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weiter:  http://www.vaterlos.eu/urteile-familienrecht/bverfg-mangelhaftes-gutachten-rechtfertigt-keinen-sorgerechtsentzug/



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