Dokumentation geht mit den früheren Praktiken der Vorzeige-Einrichtungen hart ins Gericht.
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Sexualisierte Gewalt, Hiebe,
verkrustete Strukturen, pädagogisches Niemandsland – die
österreichischen SOS-Kinderdörfer stellen sich ihrer Vergangenheit. Zum
65-Jahre-Bestandsjubiläum hat sich die Organisation einer Zäsur
unterzogen.
Der Tiroler Historiker Horst Schreiber wurde mit einer Studie zur
Aufarbeitung der Erziehungspraktiken von der Gründung der Kinderdörfer
bis in die 1990er-Jahre beauftragt (siehe Info unten). Das nicht gerade
schmeichelhafte Ergebnis liegt nun in Buchform vor.
"Der Ansatz des familienähnlichen Modells in den Kinderdörfern war
patriarchal-autoritär", schildert Schreiber. Kinderdorf-Gründer Hermann
Gmeiner sei davon ausgegangen, dass "Mütter die Erziehung von Kindern
instinktiv in sich haben". Kinderdorf-Mutter zu sein, sei als "Berufung,
nicht als Beruf" angesehen worden. "Dementsprechend gab es für die
Mütter keine Ausbildung." Partnerschaften waren verpönt und untersagt.
Pädagogische Schulungen, so fürchtete man, würden den
Kinderdorf-Müttern "das Instinkthafte nehmen". Die Kinderdörfer seien
sehr katholisch geprägt gewesen, urteilt Schreiber. "Gmeiner sah es als
politischen Auftrag, die Gesellschaft nach dem Krieg zu
rekatholisieren." Dementsprechend seien Kinderdörfer "Kloster-ähnlich
geführt" worden.
Männerbund
Die "männerbündlerische Führungsstruktur" mit den Dorfleitern sei mit
Gewalt eng verbunden gewesen. Der Historiker räumt aber ein, dass es,
anders als in Kinderheimen, in den Kinderdörfern keine systematische
Gewalt gegeben habe. Übergriffe seien – wie in normalen Familien – "von
Haus zu Haus, von Familie zu Familie unterschiedlich" gewesen. Aber: "Im
Umgang mit sexualisierter Gewalt unterschieden sich die
SOS-Kinderdörfer nicht wesentlich von Kinderheimen."
Mit 30 ehemaligen SOS-Kindern hat Schreiber gesprochen. "Leichte
Züchtigungen waren häufig. Aber es gab auch Kinder, die unter schweren
Körperstrafen sehr gelitten haben."
Erste, vage Änderungen in der Pädagogik sieht Schreiber in den
1970er-Jahren. "Aber dass Kinderdorf-Mütter in Partnerschaften leben
dürfen, ist erst seit den 1990ern der Fall." Ein tatsächliches
Aufbrechen der veralteten pädagogischen Strukturen sei erst seit zehn,
15 Jahren zu bemerken.
Aus Fehlern lernen
"Mit der Studie wollten wir die Grenzüberschreitungen zur Sprache
bringen, die damals passiert sind", erklärt Elisabeth Hauser, die
pädagogische Leiterin der SOS-Kinderdörfer. Man müsse aus den Fehlern
der Vergangenheit lernen. "Wir können nicht immer verhindern, dass etwas
passiert", sagt Hauser. "Aber wir dürfen nichts vertuschen. Es ist
schlimm, wenn ein Kind Gewalt erfahren hat, und sich an niemanden wenden
kann."
Man wolle damit verhindern, was Schreiber in seiner Studie aufgedeckt
hat: Noch vor rund zehn Jahren sind Fälle sexuellen Missbrauchs in
einem Tiroler Kinderdorf von Dorfleitung und Zentrale vertuscht worden
(siehe unten). Erst später – im Jahr 2012 – konnte der Täter nach der
Anzeige eines Opfers vor Gericht gebracht und verurteilt werden.
Mittlerweile ist bei den Kinderdörfern in Kooperation mit der
Fachhochschule Basel ein "Fehlerkultur-Prozess" in Umsetzung.
Kinderdorf-Mütter sind allesamt pädagogisch ausgebildet und für alle
Mitarbeiter gebe es "klare Abläufe und grundlegende Standards", erklärt
Hauser.
Prominenter Täter
Missbrauchsopfern wurde nicht geglaubt
Verantwortliche eines Tiroler
Kinderdorfs vertuschten sexuelle Übergriffe.
"Der Täter, zuletzt mit der langjährigen Sekretärin eines
SOS-Kinderdorfes verheiratet, ist eine öffentliche Persönlichkeit:
Architekt, Präsident eines Landessportverbandes, ÖVP-Stadtpolitiker,
dann Wechsel zur FPÖ als Gemeinderatsmitglied", schildert Horst
Schreiber in seiner Studie über die SOS Kinderdörfer.
Jahrelang, so konnte der Tiroler Historiker herausarbeiten, wurden
sexuelle Übergriffe, die dem Dorfleiter und auch der Zentrale der
SOS-Kinderdörfer bekannt waren, vertuscht. SOS-Kind Franziska, so der
Name eines der Opfer, war im Jahr 2003 in der Schule aufgefallen. Ein
Psychologe wurde zu Rate gezogen. Er fand Hinweise auf sexuellen
Missbrauch und konfrontierte die Verantwortlichen damit. Nichts geschah.
Gerda, eine Schwester von Franziska, berichtete ein Jahr darauf
detailliert über sexuelle Übergriffe durch den honorigen Politiker, der
im Kinderdorf ein- und ausging. Auch eine weitere Schwester, Johanna,
erzählte von Missbrauch durch den Mann.
Der Psychologe wandte sich an eine externe Fachexpertin, die ein
Dorfverbot für den (damals noch mutmaßlichen) Täter forderte. Der
Dorfleiter unternahm nichts. Als der Psychologe schließlich –
unterstützt von der Kinderdorf-Mutter – Konsequenzen forderte, wurde er
gekündigt. Die Mutter wurde in die Schranken gewiesen.
Mit den drei betroffenen Schwestern, die allesamt von Herrn H.
missbraucht worden sein sollen, sprach seitens der Verantwortlichen
niemand.
Erst 2010 kam die Sache ins Rollen, als eine junge Frau gegen Herrn
H. Anzeige erstattete. Er soll sie (die nicht im Kinderdorf lebte) als
Minderjährige missbraucht haben. So kamen auch die drei Missbrauchsfälle
im Kinderdorf, sowie ein weiterer Fall ans Tageslicht. H. wurde 2011
verhaftet und 2012 zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt.
Schon Franziska sagte zur Polizei: "Die ganze Sache wurde einfach vertuscht."
"Dem Schweigen verpflichtet"
Studie
Foto: /Studienverlag
Die Aufarbeitung der Geschichte der SOS Kinderdörfer durch Horst
Schreiber ist unter dem Titel "Dem Schweigen verpflichtet" im
Studienverlag in der Reihe "transblick" erschienen. Preis: 19,90 Euro.
Präsentation: 3. 11., 19 Uhr; Haus der Begegnung, Rennweg 12, Innsbruck.
SOS Kinderdorf
Das erste SOS Kinderdorf wurde 1949 von Hermann Gmeiner
in Imst in Tirol gegründet. Ziel war es, sozial benachteiligten und
verwaisten Kindern, eine Chance für ein Leben in familiärer Umgebung zu
ermöglichen. In Österreich gibt es mittlerweile elf Kinderdörfer mit 78
Familien. Dazu betreibt die Organisation auch Kriseneinrichtungen für
Kinder und Jugendliche, Wohngruppen und ambulante Sozialarbeit.
Mittlerweile gibt es in 133 Ländern der Welt SOS Kinderdörfer. Ein
Schwerpunkt liegt im asiatischen und südamerikanischen Raum. Gründer
Hermann Gmeiner ist 1986 im 77 Lebensjahr verstorben.
Link zu SOS Kinderdorf
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