Was sog.Jugendämter und Jugendhilfe ausmacht:
- Dominanzkultur
- Geschichte wiederholt sich - Die Geschichte lehrt, dass diese Institutionen besonders anfällig für Missbrauch sind
- Kinder verschwinden in (geschlossenen) Heimen, weil Kolleginnen in den Jugendämtern überfordert sind und wissen oft nicht, was sie machen sollen
- Richter an Familiengerichten sind nicht qualifiziert
- Jugendliche und ihre Familien sind Objekte von Marktstrategien
- Gesetzlich festgeschriebene Gesamtverantwortung wird nicht wahrgenommen
- Kontrollinstanzen fehlen
- Dominanzkultur
- Geschichte wiederholt sich - Die Geschichte lehrt, dass diese Institutionen besonders anfällig für Missbrauch sind
- Kinder verschwinden in (geschlossenen) Heimen, weil Kolleginnen in den Jugendämtern überfordert sind und wissen oft nicht, was sie machen sollen
- Richter an Familiengerichten sind nicht qualifiziert
- Jugendliche und ihre Familien sind Objekte von Marktstrategien
- Gesetzlich festgeschriebene Gesamtverantwortung wird nicht wahrgenommen
- Kontrollinstanzen fehlen
Manfred Kappeler
initiierte mit Ulrike Meinhof die Heimkampagne. Er begründete eine
Reform der autoritären Erziehungsvorstellungen.
taz: Herr Kappeler, warum kommen immer mehr Kinder und Jugendliche in geschlossene Heime?
Manfred Kappeler: Die
Kolleginnen in den Jugendämtern sind überfordert und wissen oft nicht,
was sie machen sollen. Das hängt auch damit zusammen, dass die
Jugendhilfe finanziell nicht entsprechend ausgestattet ist, um eine
Hilfe zu entwickeln und Umfelder zu organisieren, die solche Kinder
brauchen. So ist die schnelle Lösung: aus der Familie rausnehmen und
wegschließen.
Die Geschichte lehrt, dass diese Institutionen besonders anfällig für Missbrauch sind. Ist das alles vergessen?
Diese Debatte läuft seit 100 Jahren. Schon
früher wurden diese Einrichtungen kritisiert und Alternativen
ausprobiert. Ich selber habe in den 60er Jahren ein Heim mitentwickelt,
das Jugendliche aufgenommen hat, die in den Fürsorgeerziehungsanstalten
als nicht mehr erziehbar definiert wurden.
Wie sah das aus?
Offene Bungalows, keine geschlossenen Türen,
keine geschlossenen Fenster. Und es sind kaum Jugendliche weggelaufen.
Sie wussten, dass sie wiederkommen konnten. Sie mussten keine Strafen
befürchten. Was aus diesen Jugendlichen später geworden ist, als sie
sich entfalten konnten, war sehr erfreulich. Aber das Konzept galt als
zu teuer. Doch vor allem hat es das bestehende System infrage gestellt.
Und so blieb es lediglich bei einzelnen Modellen.
ist 75 Jahre alt, arbeitete 25 Jahre als Sozialpädagoge in der
Heimerziehung, der Offenen Jugendarbeit und in der Drogenarbeit. Von
1989 bis 2005 Professor für Erziehungswissenschaften an der TU Berlin.
2010 Mitglied der Expertenkommission zur sexuellen Gewalt in
pädagogischen Einrichtungen und Sachverständiger im Petitionsausschuss
des Deutschen Bundestages zur Aufklärung der Geschichte der
Heimerziehung der 1940er bis 1970er Jahre in der Bundesrepublik.
Dennoch beurteilten Pädagogen die geschlossene Unterbringung damals deutlich kritischer als heute.
Ja. Die geschlossene Unterbringung, die hat
es bis 1990 im Gesetz gegeben. Dann wurde das neue Kinder- und
Jugendhilfegesetz eingeführt. Dort war die geschlossene Unterbringung
gestrichen.
Aber nun kamen die Kinder und Jugendlichen über den Umweg des Bürgerlichen Gesetzbuches ins Heim.
Ja, aber entscheidend sind die
Familiengerichte. Und das ist jetzt die große Frage, wie die
Familiengerichte heute eigentlich aufgestellt sind.
Wie sind sie aufgestellt?
Im Gesetz stand, dass die Jugendlichen und
Eltern von den Richtern gehört werden sollen. Das ist alles nie
passiert. Es wird fast immer aufgrund von Aktenmappen entschieden. Im
Gesetz stand auch, dass die Vormundschaftsrichter den Werdegang des
Kindes begleiten und kontrollieren müssen. Das haben die nie gemacht.
Die Zwischenschaltung der Familiengerichte bot also nicht den erhofften Schutz?
Nein, auch deswegen nicht, weil die Richter
an Familiengerichten nicht qualifiziert sind. Die müssten eigentlich für
diese Aufgabe eine spezielle Ausbildung bekommen, damit die in der Lage
sind, sich auch selbstständig ein Bild zu machen.
Die Gesetze entsprechen den Reformwünschen, trotzdem existieren die Probleme. Wieso wurde da nicht nachjustiert?
In den 70er, 80er Jahren fand ein
Paradigmenwechsel im Denken der Praktiker und Träger statt. Mit der
Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) kam es zur
Ausdifferenzierung der Jugendhilfe. Das führte zu einer Kostenexplosion,
die von den Kommunen nicht mehr bewältigt werden konnte. Der
Jugendhilfeetat wurde nicht erhöht. Der war schon um 1990 gedeckelt. Das
schöne Gesetz ist am Widerstand der Kämmerer in den Kommunen
gescheitert.
Diese Fehler führten zur Rückkehr repressiver Pädagogik?
Es folgte eine politische Umdeutung. Die
tollen Reformideen, die da in Paragrafen gegossen waren, funktionierten
so nicht. Also wurde Stück für Stück auf repressive Maßnahmen
zurückgegriffen. Es ist uns nicht geglückt, dieses Rollback zu
verhindern.
Das Gesetz stammt aus dem Jahr 1990. Welche Rolle spielte dabei die deutsche Einigung nach 1989?
Mit Ost und West prallten Kulturen
aufeinander, die eigentlich überhaupt nicht vereinbar waren. Das hat
große Verwerfungen provoziert. Das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz
war fertig, als die Mauer fiel und trat am 1. Oktober 1990 in Kraft. Am
3. Oktober war die Wiedervereinigung. Dieses Gesetz ist gemacht worden
für Verhältnisse in der alten Bundesrepublik.
In der DDR hatte es kein 68 und keine Reformpädagogik gegeben. War das repressive Vorgehen gegen Jugendliche in der ostdeutschen Diktatur auch politisch motiviert?
Das deutsche Institut für Jugendforschung in
Leipzig hatte Mitte der 80er Jahre festgestellt, dass es zu immer
größeren Loyalitätsbrüchen von Heranwachsenden mit der DDR-Kultur kam.
Es kam zu Verfolgungen von autonomen Jugendkulturen.
Und plötzlich kam die Wiedervereinigung.
Auch die Einrichtungen der offenen
Jugendarbeit der FDJ, Jugendclubs und Jugendhäuser, wurden abgewickelt.
Und dann kamen diese Probleme mit der rechten Jugendszene in der DDR.
Die Bundesregierung legte ein Programm auf gegen Gewalt und Rassismus.
Da wurden Millionen reingepumpt. Was finanziert werden sollte, musste
diesem präventiven Gesichtspunkt genügen. Alles stand unter der
Überschrift Gewaltprävention. Und das führte zu einer umfassenden
Stigmatisierung der Jugendlichen. Heute müssen Sie Prävention
versprechen, damit Sie überhaupt noch Geld bekommen. Wenn Sie sagen: Wir
sind ein gesellschaftlich unabdingbares Sozialisationsangebot, was
nicht primär unter Gesichtspunkten der Gefahrenabwehr gesehen werden
darf, sondern eine Unterstützung für ein gutes Aufwachsen der Kinder und
Jugendlichen in dieser Gesellschaft, dann wird es schwierig.
So veränderte sich das Bild über die Jugendlichen?
Wenn eine Gesellschaft Kinder und
Jugendliche primär unter dem Aspekt des Risikos betrachtet, dann wird
der Blick total verengt. Kollegen, die die vorherige Reformdebatte
mitgemacht hatten, stiegen reihenweise aus und gingen in die innere
Emigration. Es gab eine große Frustration.
Wie kommt es, dass sich die
kirchlichen Heime der alten Bundesrepublik und die Jugendwerkhöfe der
DDR so frappierend in ihren Misshandlungen ähnelten?
Der Erziehungspraxis wurde zwar politisch
jeweils unterschiedlich begründet in Ost und West, aber im Kern gab es
keinen Unterschied. Der Wille sollte gebrochen werden. Wer die
normativen Erwartungen der jeweiligen Gesellschaft nicht erfüllte,
musste bestraft und angepasst werden. Damit sie wissen, was ihnen droht,
musste gegenüber anderen Kindern und Jugendlichen ein Exempel statuiert
werden. Heute befinden wir uns wieder auf dem Weg dorthin. Das ist das
Problem.
Die Geschichte wiederholt sich also?
Lebensgeschichtlich ist das für mich eine
harte Erfahrung. Ich habe in den 80er Jahren geglaubt, dieser Umgang mit
Jugendlichen sei überwunden. Doch es geht alles wieder los. Ich bin
schockiert, wenn ich mit Kollegen und Kolleginnen aus den Jugendämtern
rede oder auch mit Therapeuten.
Welches Menschenbild wieder herrscht?
Wir haben damals geglaubt, wir hätten die
Sprache verändert. Wir haben den Verwahrlosungsbegriff abgeschafft. An
den Fachhochschulen und Universitäten wurde gelehrt, wie man über ein
Kind, eine Familie so berichten beziehungsweise schreiben kann, damit es
nicht diskriminierende Vermerke, Berichte und Gutachten in den
Jugendamtsakten gibt. Wir haben Fallseminare gemacht und Akten der
Jugendämter studiert. Wir sahen uns alle Beteiligten an, die mit dem
Kind zu tun hatten.
Aus dieser normativen Arbeit ist heute eine Art Dienstleistung geworden.
Die Jugendämter haben sich von
Unternehmensberatungsgesellschaften informieren lassen, wie sie nach
Gesichtspunkten von Unternehmen organisiert werden können. Und dazu
gehörte ein striktes Zeitmanagement. Ein sogenannter Produktkatalog
wurde eingeführt. Die Jugendämter haben alles, was sie unternahmen, als
Produkte definieren müssen. Damit wurde der Prozesscharakter, die
notwendige Ergebnisoffenheit sozialpädagogischen Handelns stark
eingeschränkt.
Ergebnisoffenheit?
Ja, denn Jugendhilfe ist ein prozessuales
Geschehen, das offen gehalten werden muss, dessen Ergebnisse nicht schon
am Anfang festgelegt werden dürfen, dessen Verlauf immer wieder
zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen reflektiert, überprüft und
gegebenenfalls verändert werden muss. In autoritären Einrichtungen wie
den Heimen der Haasenburg ist das schon strukturell ausgeschlossen,
bewusst nicht gewollt. Das gilt für alle Einrichtungen der Kinder- und
Jugendhilfe, die glauben, Heranwachsende mit Freiheitsentzug auf ein
gelingendes Leben in Freiheit vorbereiten zu können.
Warum ist es dann so angelegt?
Die Formulierung eines Produkts als Ergebnis
einer Jugendhilfeintervention ist gesetzlich nicht zulässig, da das
geltende Kinder- und Jugendhilfegesetz vorschreibt, dass alle an der
Erziehung und Entwicklung eines Kindes Beteiligten in Hilfekonferenzen
und in der Hilfeplanung darüber nachdenken, was die jeweils richtige
Unterstützung wäre. An diesem Aushandeln muss das Kind in einer seinen
Möglichkeiten entsprechenden Weise beteiligt werden.
Das wurde abgeschafft?
Noch nie in meiner über 50-jährigen
Jugendhilfearbeit ist die Schere zwischen einer entwickelten Sprache auf
der einen Seite und einer dem widersprechenden Praxis auf der anderen
Seite so groß gewesen wie heute.
Wie lässt sich das ändern?
Die Beurteilungskriterien sind immer von der
Dominanzkultur einer Gesellschaft abhängig. Also wenn in den 60er
Jahren ein Mädchen einen Minirock trug und mit einem Jugendlichen auf
dem Moped abends um zehn durch die Gegend fuhr, konnte es passieren,
dass es als sexuell verwahrlost dem Jugendamt gemeldet und in ein
Erziehungsheim gebracht wurde. Heute geht es um andere, nicht weniger
diskriminierende Bilder von erziehungsschwierigen Mädchen und Jungen.
Die Jugendhilfe muss diese Bilder stets kritisch hinterfragen und darf
die Sprache, in der sie verbreitet werden, nicht übernehmen.
Was fordern Sie?
Es muss unabhängige
Unterstützungsmöglichkeiten für Kinder, Jugendliche und ihre Familien
geben. Vom ersten Kontakt mit dem Jugendamt bis zum Beschluss einer
Maßnahme. Die positiven gesetzlichen Regelungen der Kinder- und
Jugendhilfe können nur realisiert werden, wenn es Instanzen gibt, die
das kontrollieren. Doch die staatliche Kontrolle ist innerhalb dieser
Systeme selbst angesiedelt. Gerade das Beispiel des Versagens der
brandenburgischen Heimaufsicht, einschließlich des zuständigen
Jugendministeriums gegenüber der Haasenburg, zeigt, was dies für
katastrophale Folgen für Kinder und Jugendlichen haben kann, die in so
einer Einrichtung leben müssen.
Dort überwachten drei Leute Hunderte von Heimen.
Eines der wesentlichen Ergebnisse der
Analyse der Geschichte der Heimerziehung ist ja, dass alle
Kontrollinstanzen, die es stets gegeben hat, versagten.
Gibt es keine Kritiker der gegenwärtigen Entwicklung?
Auf den Kinder- und Jugendhilfetagen der
Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe – das ist die Dachorganisation der
Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland – wurde in den letzten Jahren
eine Repolitisierung der Jugendhilfe gefordert. Gegenwärtig entstehen an
vielen Orten Zusammenschlüsse kritischer Sozialarbeiter und
Sozialarbeiterinnen. Nur durch solche Vernetzungen können sich Kollegen
und Kolleginnen in Jugendämtern und in Einrichtungen aus der
frustrierenden Einzelkämpferposition befreien, Zumutungen zurückweisen
und Veränderungen im Interesse der ihnen anvertrauten Kinder und
Jugendlichen durchsetzen. Da wächst etwas. Gleichzeitig gibt es aber
auch immer mehr Befürworter der geschlossenen Unterbringung.
Und die Politik?
Selbst Mitglieder der Grünen im Bund, in den
Ländern und Kommunen, sind nach der Haasenburgdebatte auf die Idee
gekommen, dass die freiheitsentziehenden Maßnahmen nun gesetzlich
geregelt werden müssten. Das ist eine Katastrophe. Diese Leute sagen,
die freiheitsentziehenden Maßnahmen werden missbraucht. Aber:
tatsächlich sind diese Maßnahmen selbst der Missbrauch.
Würde es helfen, die Jugendhilfe zu verstaatlichen?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass
wesentliche Innovationen in der sozialen Arbeit nur im außerstaatlichen
Bereich möglich waren. Ich war 25 Jahre in der Praxis, bevor ich
Professor wurde, und in dieser Zeit habe ich nur in alternativen
Projekten gearbeitet, die, bis auf zwei Ausnahmen, bei freien Trägern
und Initiativen möglich waren. Im Prinzip halte ich die in Deutschland
bestehenden Regelungen für das Verhältnis von Staat und
Verbänden/Initiativen in der sozialen Arbeit für gut. Und in der Kinder-
und Jugendhilfe hat der Staat, das heißt die Jugendämter, die
Landesjugendämter und die zuständigen Ministerien, sowieso die
gesetzlich festgeschriebene Gesamtverantwortung. Er müsste sie nur auch
verantwortlich wahrnehmen. Stattdessen zieht sich der Staat immer mehr
aus seinem im Grundgesetz Art. 6 formulierten „Wächteramt für das
Kindeswohl“ zurück und überlässt es einem angeblich sich selbst
regulierenden Markt der Kinder- und Jugendhilfe, der stark von
Profitinteressen bestimmt wird und so Kinder, Jugendliche und ihre
Familien zu Objekten von Marktstrategien macht.
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