16.06.13
Reportage : Wie Jugendämter in das Leben von Familien eingreifen Von : Hinrich Rohbohm
„Dann wenden wir auch Gewalt an“
Reportage : Wie Jugendämter in das Leben von Familien eingreifen
Von : Hinrich Rohbohm
Der große wohlbeleibte Mann an der Kasse des Marktkauf-Restaurants fällt auf. Nicht wegen seiner Brille oder den leicht gelockten braunen Haaren. Vielmehr ist es ein knallrotes Hemd, das einige Gäste teils irritiert, teils mit einem fragenden Gesichtsausdruck betrachten. Das Hemd ist mit einem großen schwarzen Bundesadler bedruckt. Der Adler hält zwei Kinder in seinen Krallen. Einen Jungen in der Linken, ein Mädchen in der Rechten. Der Raubvogel drückt die beiden Kinder zu Boden. „Jugendamtwillkür zerstört intakte Familien“ steht auf der Rückseite des Kleidungsstücks geschrieben.
Ralf von der Lieth hat viele solcher von ihm selbst entworfenen T-Shirts. Sie sind sein sichtbares Instrument im Kampf gegen das Jugendamt, seine persönliche Anklage gegen den Raubvogel Staat, der den Familien seine Kinder nimmt. Er hat sich einen Kaffee geholt. Doch der ist ihm erst einmal egal. Ohne Umschweife beginnt der 41 Jahre alte ehemalige Kurierdienstfahrer von seiner Tochter Violet zu erzählen. Vor mehr als drei Jahren hatte das Jugendamt das damals vierjährige Mädchen seinen Eltern weggenommen. „Entführt“, wie es der Vater nennt. Entführt? Von der Lieth bleibt bei dieser drastischen Formulierung. Dabei hatte er selbst das Jugendamt ursprünglich um Hilfe bitten wollen.
Eine Familienhelferin sollte seine Frau unterstützen, weil sie aus geistigen Gründen Schwierigkeiten mit der Haushaltsführung hatte. „Ich war naiv“, sagt von der Lieth heute. Statt einer tauchten plötzlich zwei Helferinnen auf. „Und statt meiner Frau zu helfen, haben die ständig versucht, unsere Familie auseinanderzubringen.“
Irgendwann entdeckte er Computerausdrucke mit Angeboten für Einzimmerwohnungen auf seinem Schreibtisch. Von der Lieth wurde stutzig, fragte, was das zu bedeuten habe. „Ihre Frau zieht demnächst aus“, erklärten die Helferinnen dem verblüfften Familienvater. Ralf von der Lieth will ein klärendes Gespräch mit dem Jugendamt. Es sei für Violet das Beste, wenn sie in ein Heim komme, erklärt man ihm dort. Die Mutter tauge ja nichts, auf sie könne man nicht zählen, argumentiert die Mitarbeiterin und legt den Eltern eine Einverständniserklärung für die Einweisung Violets in ein Kinderheim vor. Die Eltern weigern sich, den Schriftsatz zu unterzeichnen. Auf Zureden der Familienhelferin sei seine Frau schließlich ins Frauenhaus gezogen.
Ralf von der Lieth war jetzt allein mit dem Kind. Weil er tagsüber arbeiten mußte, brauchte er eine Betreuung für Violet. Immer wieder bittet er das Jugendamt um Hilfe für eine Tagesbetreuung für seine Tochter. „Aber die sagten mir immer nur, daß es besser ist, Violet in ein Heim zu geben. Doch der Vater scheint die Situation in den Griff zu bekommen. Er findet einen Kindergartenplatz für Violet, seine Frau kommt wieder zu ihm zurück. Dann kam der 17. Dezember 2007. „Herr von der Lieth, Violet ist heute nicht im Kindergarten angekommen“, teilt ihm eine Erzieherin mit. Die Familienhelferin habe das Kind, ohne ihn oder den Kindergarten zu informieren, zu sich genommen, erzählt von der Lieth. Er ist außer sich, verlangt sein Kind zurück.
„Würde es um Ihr Kind gehen, wie würden Sie sich denn verhalten?“ hatte er die Familienhelferin damals gefragt. Eine Aussage, die das Jugendamt später so dargestellt habe, als habe er der Helferin gedroht, ihre Kinder zu entführen. Plötzlich wird Ralf von der Lieth vom Jugendamt als gefährlich eingestuft. Ein Mann, vor dem das Kind beschützt werden müsse. Vier Tage später folgte ein Gerichtsbeschluß, der dem Jugendamt das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertrug. Die Eltern müssen Weihnachten ohne ihre Tochter verbringen. Drei Jahre lang ist Violet von ihnen getrennt.
Ralf von der Lieth ist inzwischen längst pleite, wie er sagt. Denn die Kosten für Violets Aufenthalt in einer Pflegefamilie wurden den Eltern auferlegt. Von der Lieth wurde zum Hartz-IV-Empfänger. Den Kampf um seine Tochter hat er jedoch nicht aufgegeben. Er prozessiert. Es gibt eine Reihe von Leuten, die sich über ihn positiv äußern würden. Der Hausarzt. Der Kinderzahnarzt. Die Kinderpsychologin. Zahlreiche Väter und Mütter, die Ralf von der Lieth im Kindergarten zu ihrem Elternratsvorsitzenden gewählt hatten. „Keiner von ihnen wurde vor Gericht gehört“, beklagt von der Lieth. Er prozessiert trotzdem bis zum Oberlandesgericht in Celle, wo er schließlich das Sorgerecht für Violet zurückgewinnt. Seit einem Monat ist seine Tochter wieder zu Hause bei ihren Eltern. Sie spielt mit Playmobilfiguren. Sie lacht. Immer wieder, kann gar nicht mehr aufhören. „Das macht sie ständig“, sagt ihr Vater und lacht mit. Nach langer Zeit mal wieder.
Ralf von der Lieth ist kein Einzelfall. Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben betroffene Eltern inzwischen über 400 Petitionen aufgrund äußerst fragwürdiger Praktiken deutscher Jugendämter beim Kindesentzug eingereicht. „Das Problem ist, daß es in Deutschland keine Fachaufsicht für die Jugendämter gibt“, sagt die Journalistin Karin Jäckel, die sich mit dem Thema Kindesentzug seit Jahren beschäftigt. Hinzu komme mangelndes Fachwissen der Mitarbeiter. „Jugendämter müssen Eltern vorher informieren“, fordert Jäckel. Sie hofft, daß dadurch Vorfälle vermieden werden, wie sie das Ehepaar Burchardt (Name von der Redaktion geändert) im brandenburgischen Wustermark erleben mußte.
Ein anonymer Anruf mit dem Hinweis darauf, daß sich die Kinder der Burchardts in akuter Lebensgefahr befänden, hatte am 26. April vorigen Jahres ausgereicht, um ein Großaufgebot der Polizei vor dem Haus der Familie erscheinen zu lassen. Johannes und Beatrice Burchardt müssen sich vorgekommen sein wie in einem schlechten Traum. Rettungswagen, Notarzt, Schlüsseldienst und psychologischer Amtsarzt standen plötzlich gemeinsam mit vier Polizisten vor ihrer Tür. Als sie sich weigerten zu öffnen, wurde sogar ein Sondereinsatzkommando (SEK) angefordert. Nur mit Mühe konnten die Eltern die Lage deeskalieren. Ein Amtsarzt stellte schließlich fest, daß die Eltern „doch ganz normal“ seien. Dennoch erhalten die Burchardts am Tag darauf einen anonymen Anruf. „Wir holen jetzt Ihre Kinder in einer halben Stunde ab, bleiben Sie ganz ruhig, wir haben jetzt den richterlichen Beschluß“, sagte die Stimme am Telefon. Als Grund für den Entzug wurde religiöser Wahnsinn angegeben.
Die Burchardts blieben alles andere als ruhig, ergriffen die Flucht aus ihrem eigenen Heim, versteckten sich in einer Ferienwohnung der Großeltern in Berlin-Spandau. „Hier ging es nicht mit rechten Dingen zu“, erinnert sich Johannes Burchardt an die dramatischen Geschehnisse. Einen Tag später erschien die Polizei auch dort. Als die Eltern abwesend waren, nahmen Polizeibeamte den Großeltern die Kinder weg. „Was passiert, wenn ich nicht mitkommen will“, hatte Sohn Jan einen der Beamten damals gefragt. „Dann wenden wir auch Gewalt an“, hatte der Polizist ihm entgegnet. Die Eltern waren am Ende. Der Vater war zusammengebrochen, hatte Weinkrämpfe.
Johannes Burchardt sitzt in seinem Arbeitszimmer und schüttelt den Kopf. „Was ist das nur für ein Staat?“ fragt er sich immer wieder. „Wir sind evangelische Christen, die offen ihren Glauben an Gott leben“, erklärt seine Frau Beatrice. Aber wahnsinnig? Ein mündliches Gutachten hatte am 14. September ergeben, daß die Kinder normal entwickelt sind und eine Gefahr durch die Eltern nicht bestehe. Dagegen habe Sohn Jan während des verordneten Aufenthalts in einer Pflegefamilie seelische Störungen erlitten. Einnässen, Aggressivität sowie schlechte schulische Leistungen seien hinzugekommen. Zudem sollen den Kindern Beruhigungstabletten verabreicht worden sein. Tochter Melanie hatte in dieser Zeit ihren Eltern einen Brief geschrieben, in dem sie davon sprach, daß die Pflegeeltern stets mithörten, wenn sie mit ihren leiblichen Eltern telefoniert hatte.
„Es ist ein Geschäft“, sagt Beatrice Burchardt. Für die Betreuung eines Kindes durch eine Pflegefamilie fallen hohe Kosten an. Zwischen 3.000 und 6.000 Euro monatlich. Die Kosten werden den Eltern in Rechnung gestellt. Können sie nicht zahlen, springt der Staat ein. Für Pflegeeltern und Kinderheime ein lohnendes Geschäft. Und ein gefährlicher wirtschaftlicher Kreislauf. Werden den Familien mehr Kinder der Obhut entzogen, wirkt sich das finanziell positiv auf die Heime aus. Zudem entsteht ein zusätzlicher Bedarf an Betreuern, Sozialpädagogen und Psychotherapeuten. Auch für Psychologen ist der Kindesentzug lukrativ. Teure Gutachten müssen erstellt werden, um festzustellen, ob Eltern in der Lage sind, ihren Kindern die nötige Fürsorge zu geben. Die Gutachten wiederum dienen den Gerichten als Grundlage für ihre Entscheidungen.
Dagegen ist die anwaltliche Vertretung von Kindesentzug bedrohter Eltern äußerst unattraktiv. „Damit läßt sich nicht viel Geld verdienen“, erklärt Karin Jäckel. Dementsprechend wenig Rechtsanwälte gibt es, die beim Thema Kindesentzug größeres Engagement einbringen. Auch die Burchardts mußten diese Erfahrung machen. Erst als sie den Anwalt wechselten, ging es für sie aufwärts. Sie klagten auf Umgangsrecht, reichten Beschwerde beim Oberlandesgericht ein. Die Beschwerde wurde abgewiesen. Doch das Ehepaar ließ nicht locker. Sie gingen vor das brandenburgische Landesverfassungsgericht. Und hatten plötzlich Erfolg. Das Oberlandesgericht wurde gerügt und mit den Burchardts ein Vergleich geschlossen. Am 22. Dezember erhielten sie ihre Kinder zurück.
Ralf von der Lieth sieht inzwischen hinter der fragwürdigen Praxis des Kindesentzugs ein System.
Seine Vermutung: Einige Jugendamtsmitarbeiter werden von potentiellen Auftraggebern wie Kinderheimen oder Gutachtern geschmiert. Im Gegenzug würden diese sich mit der Vergabe von Gutachter-Aufträgen oder Kindeszuweisungen revanchieren. Daher würden zunehmend mehr Kinder ihren Eltern entzogen, ist von der Lieth überzeugt.
Eine Auffassung, die auch Katharina Rothenbach teilt. Das Jugendamt in Mönchengladbach hatte der heute 30 Jahre alten Krankenschwester vor zwei Jahren ihren damals vierjährigen Sohn weggenommen. Begründung: Sie sei suizidgefährdet und habe sich von einer Brücke stürzen wollen. „Totaler Quatsch. Ich arbeitete damals in der Anästhesie, wenn ich mich hätte umbringen wollen, wäre mir das viel einfacher möglich gewesen“, sagt die heutige Medizin-Studentin, die jetzt für die Intereressen von Kindesentzug Betroffener kämpft und sich für die Hilfsorganisation Conseil Européen des Enfants du Divorce (CEED) engagiert. Ihr Sohn lebt nun beim Vater. „Das ist zwar nicht mein Wunsch. Aber ich weiß, daß es ihm da besser geht als in einer Pflegefamilie“, ist Rothenbach überzeugt.
www.karin-jaeckel.de , www.ceed-europa.eu , www.vermisste-kinder.de , www.betroffene-eltern.de
www.entsorgte-eltern-und-grosseltern.de , www.vaeter-fuer-gerechtigkeit.de
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