Sie kann nicht mehr. Ihr Sohn Michael ist hochintelligent. Doch statt in der Schule zu lernen, sitzt er in der Lüneburger Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eingesperrt statt lernbereit. Wie es dazu kam, ist ziemlich kompliziert: Schon in der Grundschule fällt Michael auf. Er habe seiner Lehrerin die Photosynthese erklärt, erinnert sich seine Mutter, die irgendwo in der Samtgemeinde Elbtalaue wohnt. Die Mehrheit der Lehrer habe mit dem überdurchschnittlichen Wissen ihres Sohnes nicht umgehen können. Langsam fangen die Schwierigkeiten in der Schule an, nehmen Fahrt auf, werden schließlich unüberwindbar. Mit den Lehrern gibt es Probleme, mit den Mitschülern auch. Ein Schulwechsel ändert daran nichts. Wieder Frust ohne Ende statt Lust am Lernen.
Mit 14 Jahren will der schüchterne Michael nicht mehr zur Schule gehen. Morgens klagt er über Bauchschmerzen, will nicht aufstehen, wehrt sich mit Händen und Füßen. Schulangst, Komplettverweigerung, irgendwann eine Depression. Auch Irene Martins konnte ihren Sohn nicht mehr dazu bewegen, in die Schule zu gehen, sagt sie. Zwei Kinder- und Jugendpsychologinnen in Dannenberg und Hamburg testen die Intelligenz des Jungen, kommen zum gleichen Ergebnis: Michaels IQ bewegt sich oberhalb der 130er-Marke.
Zu Hochintelligenz und Schulangst kommen familiäre Probleme. Michaels Vater, von dem sich seine Mutter bereits Jahre zuvor getrennt hat, stirbt, auch die zweite Ehe der Mutter scheitert, Irene Martins stürzt in eine Depression. Eine schwierige Situation für die Familie. Das Jugendamt schaltet sich ein, entzieht der Mutter in der Folge das Aufenthaltsbestimmungsrecht, schaltet einen Familienhelfer ein. Laut Mutter erfolglos.
Zuletzt hatte Michael auf die Berufsbildenden Schulen (BBS) in Lüchow gehen sollen, um auf Vorschlag des Jugendamtes ein Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) zu absolvieren. Ein Programm für Jugendliche ohne Hauptschulabschluss und mit Schulangst. Auch ein Programm für Hochintelligente? Der Versuch geht schief. Schon nach wenigen Tagen verweigert sich Michael wieder komplett, macht dicht, bleibt zu Hause. Schließlich kommt es zum Äußersten. Mitte Dezember steht das Jugendamt zusammen mit zwei Polizisten, Sanitätern und einem Krankenwagen vor der Tür.
Ein Richter hat die Zwangseinweisung in die Lüneburger Kinder- und Jugendpsychiatrie angeordnet. Dort soll herausgefunden werden, was mit Michael los ist. Ein Diagnose soll her. Verstehen kann Irene Martins das nicht. »Die Diagnose ist doch eindeutig, was wollen die noch?», fragt sie. Sie glaubt, dass ihr Sohn durch die Zwangseinweisung traumatisiert worden ist. »Er ist fertig, er kann nicht mehr, er weint und weint», sagt sie. Dem Jugendamt des Landkreises macht Martins Vorwürfe. Die Mitarbeiter könnten mit Hochintelligenz nichts anfangen, sagt sie, ihr Sohn bleibe durch das Handeln der Behörde auf der Strecke.
Vorwürfe, die Josefa Seppeler verstehen kann. Sie ist Vorsitzende des Berliner Vereins Pfiffikus, der sich für die Förderung hochbegabter Kinder einsetzt. In Michaels dicke Akte hat sie sich schon vor Wochen eingearbeitet. Ihr Urteil: Die Zwangseinweisung sei die schlechteste Variante.
Auch den Zeitpunkt der Zwangseinweisung kritisiert Seppeler: »Den Jungen kurz vor Weihnachten aus der Familie zu reißen und wegzusperren, ist eine Zumutung.» Das Vorgehen des Jugendamtes findet sie »erschütternd» und »alles andere als zum Wohle des Kindes». In Michaels Fall verwechsle das Jugendamt Ursache und Wirkung, handle entgegen der Empfehlung verschiedener Gutachter. »Das Amt will unbedingt die Anpassung an die Regelschule durchsetzen und sei es nur die Hauptschule», ist Seppeler sich sicher. Ihrer Erfahrung nach ist Michaels Fall zwar besonders hartnäckig, letztlich aber keine Seltenheit. »In den vergangenen elf Jahren haben wir viele solcher Fälle erlebt - hochintelligente Kinder, die in der Psychiatrie landen, Klassen wiederholen müssen, auf die Sonderschule geschickt werden», sagt Seppeler. Viele hochbegabte Kinder seien mit Unverständnis und Desinteresse konfrontiert, so ihre Erfahrung.
Doch das Problem hat noch eine andere Seite: Rechtsanwältin Karin Lehnert, die Irene Martins vertritt, sagt, dass ihre Mandantin nicht ganz einfach sei. »Sie ist eine unbequeme Mutter, die gegenüber dem Jugendamt nicht mit ihrer Meinung hinter dem Berg hält», sagt sie. Offenbar hat sich die Mutter durch ihr wenig entgegenkommendes Auftreten teilweise selbst in die missliche Situation manövriert, hat unter anderem mehrere Dienstaufsichtsbeschwerden gegen das Jugendamt eingelegt. Aus Lehnerts Sicht hat sich die Situation zu einem Machtkampf zwischen Mutter und Jugendamt hochgeschaukelt. Sie kritisiert allerdings, dass sich das Jugendamt auf diesen Kampf überhaupt eingelassen habe. »Das martialische Vorgehen war kein gutes Signal», sagt Lehnert, das Vorgehen sei »unorthodox». Aus Sicht der Gerichte möge die Zwangseinweisung richtig gewesen sein, aus Sicht der Hochbegabtenförderung hingegen genau das Gegenteil. Das gemeinsame Ziel von Lehnert und Seppeler: Michael soll eine Probewoche in der Hochbegabtenförderung des Christlichen Jugenddorfes (CJD) in Braunschweig absolvieren, dort von Experten für Hochbegabung getestet werden und anschließend eventuell eine CJD-Schule besuchen. »Dort wäre er ein Gleicher unter Gleichen», sagt Lehnert.
Ob es dazu kommt, steht längst noch nicht fest. Das Jugendamt will sich zum Fall nicht äußern. Es trage bei Zwangsunterbringungen »gemäß allgemein üblichem fachlichen Standard Informationen zusammen» und wäge »in kollegialer Beratung ab, welches Vorgehen notwendig» sei, heißt es von der Behörde. Sie stelle bei allen Entscheidungen das Kindeswohl in den Vordergrund und nehme eine »gründliche Interessenabwägung» vor. Wie es in Michaels Fall weitergeht, will das Amt aus Datenschutzgründen nicht sagen.
Vor allem die jüngsten Entwicklungen lassen allerdings nicht sonderlich viel Gutes hoffen. Über Weihnachten durfte Michael nach Hause. Er könne nicht mehr, sagte er seiner Mutter und seinem Hausarzt. Der schrieb ihn krank. Die Krankschreibung soll eine Rückkehr in die Kinder- und Jugendpsychiatrie vorerst verhindern. Womöglich ein Eigentor, durch das der vermutete Machtkampf in eine neue Runde gehen könnte.
Bild: Seit zwei Jahren war ein 16-Jähriger aus der Samtgemeinde Elbtalaue nicht mehr regelmäßig in der Schule. Er hat Schulangst. Jetzt hat das Jugendamt durchgegriffen und den Hochintelligenten zur Diagnose in die Lüneburger Kinder- und Jugendpsychiatrie zwangseingewiesen. Genau das Falsche, sagen Hochbegabtenförderer. Es gebe keine andere Lösung, sagt die Behörde. Aufn.: dpa
Gleiches spielt sich auch grade bei mir ab.
AntwortenLöschenAn welche Anlaufstelle sollte man sich wenden? Wir haben ebenfalls den Eindruck das unser Jugendamt nicht im Sinne unseres Kindes handelt. Gruß aus dem Ruhrgebiet
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