10. Juli 2012 06:50;
Akt.: 10.07.2012
“Für die Kinder gab es kein Entrinnen”
Über 2000 Zöglingsakten: Die Gewalt am Jagdberg im vorigen Jahrhundert ist gut dokumentiert.
von VN/Iris Burtscher - Schlins – Studie: “Dreieck der Macht” ermöglichte jahrzehntelang Missbrauch in Heimen.
Schläge, sexueller Missbrauch,
Demütigungen: Hunderte Kinder wurden in Vorarlberg und Tirol bis in die
1980er Jahre Opfer von Gewalt in Landeseinrichtungen. 185 Frauen und
Männer aus Vorarlberg meldeten sich bei der Opferschutzstelle seit ihrer
Einrichtung 2010 mit ihren verstörenden Berichten. 285 waren es in
Tirol. Zumindest eine Folge war, dass die Bundesländer Vorarlberg und
Tirol die Erziehungswissenschaftlerin Michaela Ralser an der Uni
Innsbruck beauftragen, die Heimgeschichten von 1945 bis 1990
aufzuarbeiten. Gemeinsam, weil viele Tiroler Buben am Jagdberg,
Vorarlberger Mädchen wiederum in St. Martin in Schwaz untergebracht
waren. In den letzten Monaten trug Ralser mit ihrem Team die nötigen
Akten zusammen, und das sind viele: Tausende Mündel-, Kranken-, Heim-
und Jugendwohlfahrtsakten konnten ausgehoben werden. Mit dieser
Vorstudie kann jetzt auch die Frage beantwortet werden, ob eine
historische Aufarbeitung möglich wäre, eindeutig mit Ja beantwortet
werden.“Fürsorgeerziehungsregime”
Eine bittere Erkenntnis gibt es schon: Dass es möglich war, dass
Heimkinder über Jahrzehnte hinweg körperliche, psychische und sexuelle
Gewalt erfahren mussten, war nur durch ein Zusammenspiel von Behörden,
Heimen und Kinderpsychiatrie möglich, wie Studienleiterin Michaela
Ralser erklärt. Als „Fürsorgeerziehungsregime“ bezeichnet sie es
deshalb. „Man muss von einem geschlossenen Machtsystem ausgehen, das
letztlich den Kindern an keiner Stelle Hilfe zukommen ließ.
In den
Heimen gab es kein Entrinnen“, sagt Ralser. In den Heimen landeten vor
allem Kinder, die unehelich oder in ärmliche Verhältnisse geboren
wurden. Sie litten unter den autoritären Regimes.
Zwischen Jugendamt und Heimaufsicht gab es laut Ralser wechselseitige
Abhängigkeiten. Wohlfahrt und politisch Verantwortliche kamen ihrer
Kontrollfunktion nicht nach. Die Gesetze waren längst veraltet, und
nicht einmal diese wurden eingehalten. Eine Modernisierung der
Erziehungsmethoden sei erst sehr spät passiert.
Dass die grausamen Vorfälle der Vergangenheit aufgearbeitet werden,
das fordert die Forschungsgruppe um Ralser. Konkret schlägt sie eine
Gesamtstudie vor, in der das komplette gesicherte Material analysiert
wird und Betroffene befragt werden. Zudem sollen vier einzelne
Institutionen genau unter die Lupe genommen werden: Zu allererst legt
sie nahe, die Schlinser Erziehungsanstalt Jagdberg zu untersuchen:
einerseits wegen der hohen Zahl an Gewaltmeldungen und andererseits,
weil beinahe alle Akten noch vorhanden sind. „Das ist einzigartig. Es
wäre eine gesellschaftliche Nachlässigkeit, es nicht aufzuarbeiten“,
sagt Ralser.
Bis im Herbst wollen Vorarlberg und Tirol über die weitere
Vorgangsweise entscheiden. Landesrätin Greti Schmid schickt voraus: „Es
soll erforscht werden, wie es zu dieser Gewaltdynamik kommen konnte. Die
Aufarbeitung soll den Blick für die Gegenwart schärfen. So etwas darf
nie mehr passieren.“ Dass Jugendliche und Kinder seelische, physische
und sexuelle Gewalt erleiden mussten, sei traurig und beschämend. „Ich
kann nur nochmals um Verzeihung bitten, für das, was sie vor 1990
erleiden mussten“, sagt Schmid.
“Gnadenloses Regime”
Auch Kinder- und Jugendanwalt Michael Rauch spricht von einem
„gnadenlosen Regime“, dem Heimkinder ausgeliefert waren. „Durch alle
Berichte der Opfer zieht sich wie ein roter Faden, dass Entscheidungen
willkürlich getroffen wurden, oft ohne Mitsprache der Eltern. Es gab
keine Beschwerdemöglichkeit für Betroffene, dafür gröbste
Kontrollmängel.“ Kinder wurden vor den angekündigten Kontrollen vom Amt
eingeschüchtert oder teilweise versteckt. Wichtig sei nun, dass die
Betroffenen in die historische Aufarbeitung einbezogen werden und dass
Opfern endlich Glauben geschenkt werde.
Über eine Million Euro bezahlt
Dass eine Aufarbeitung bitter nötig ist, belegen auch die jüngsten
Zahlen der Vorarlberger Opferschutzkommission: 185 Betroffene haben sich
bereits gemeldet, 1.076.000 Euro Entschädigungen wurden vom Land
ausbezahlt. Erst im Juni empfahl die Kommission der Landesregierung
Zahlungen in der Höhe von 54.000 Euro an weitere neun Betroffene.
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