Das Beratungsgespräch beim Jugendamt in Königs Wusterhausen entwickelte sich anders, als Ute Licht, 36, es erwartet hatte. Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder suchte fachkundige Unterstützung, wie man ihren lernfaulen und durch mehrere Einbrüche in leerstehende Ferienhäuser unangenehm aufgefallenen Sohn Andreas, 16, zu regelmäßigem Schulbesuch anhalten könnte. Aber die Fachleute vom Amt hatten Größeres vor: "Was halten Sie von einem erlebnispädagogischen Projekt in der Karibik?" fragten sie.
Ute Licht, die sich immerhin schon mal einen Urlaub in Österreich gegönnt hatte, war zunächst skeptisch: "Ich dachte, die spinnen. Warum soll Andreas in die Karibik? Der soll in die Schule." Aber dann ließ sich die Gärtnerin überzeugen, daß zehn Monate in einem Karibik-Projekt des Berliner Instituts für Außerschulisches Lernen und Erlebnispädagogik e. V. (Alep) aus ihrem Sohn einen besseren Menschen machen könnten.
Am 20. September 1996, zwei Wochen nachdem Ute und Andreas Licht zugestimmt hatten, saß der Junge in einer Air-France-Maschine Richtung Dominikanische Republik. Aber schon nach sechs Wochen war er wieder zu Hause. Es hatte keine "tiefgreifende Veränderung" seines "bisherigen Verhaltensmusters" gegeben, wie Alep in Aussicht gestellt hatte, sondern "körperliche und seelische Mißhandlungen", wie Andreas Licht nach seiner Rückkehr berichtete. Auf der Hazienda des deutschen Sozialpädagogen Heinz-Jürgen Gießelmann de García, 42, hätten die Kinder bei tropischen Temperaturen acht Stunden täglich im Straßenbau arbeiten müssen und nicht genug Nahrung, dafür aber Prügel bekommen.
Nun haben Mutter und Sohn bei der Kripo in Königs Wusterhausen Anzeige erstattet. Die umstrittene Erlebnispädagogik (SPIEGEL 36/1996) ist damit auch in Brandenburg Gegenstand polizeilicher Ermittlungen geworden.
In Berlin und Schleswig-Holstein versuchen Staatsanwälte schon seit 1994, zweifelhafte Geschäfte im Bereich der vom Staat mit jährlich rund 30 Milliarden Mark subventionierten Jugendhilfe aufzudecken. Die Gewinnspannen im pädagogischen Umgang mit den 80 000 deutschen Heimkindern sind groß und verleiten nach den Erkenntnissen der Justiz zum Betrug.
Im Zentrum der Ermittlungen steht der Kieler Sozialpädagoge Johann F. Johannsen, 50, der den Ermittlern als Schlüsselfigur in einem Netzwerk krimineller Jugendhelfer gilt. Sein 1977 in Dithmarschen gegründetes Projekt "Kinderhaus" expandierte, hatte zuletzt 21 Filialen im In- und Ausland und betreute 170 schwererziehbare oder polizeibekannte Kinder und Jugendliche. Bis zu 210 Mark pro Tag und Kind kassierte Johannsen vor allem von Berliner Jugendämtern, die zeitweise die Hälfte aller Zöglinge im Kinderhaus stellten.
Nach Angaben ehemaliger Mitarbeiter war der Profit "enorm". Wie nahezu alle Jugendhilfe-Einrichtungen vermakelte Johannsen einen Teil der Kinder an Pflegeeltern und von deutschen Behörden kaum überprüfbare Betreuungsstellen im Ausland weiter. In großem Umfang, so der Vorwurf der Kieler Staatsanwaltschaft, habe er dabei Gelder der Jugendämter einbehalten. Pflegeeltern gaben zu Protokoll, sie hätten von den bis zu 6300 Mark, die Johannsen pro Kind und Monat von den Jugendämtern kassiert hatte, nur 2400 Mark erhalten. Bei 170 Kindern kann so theoretisch über eine halbe Million Mark pro Monat beiseite geschafft werden.
Seit über zwei Jahren ermitteln die Korruptionsabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft, die Staatsanwaltschaft Kiel, das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein und Interpol gegen Johannsen und seine Helfer. Nach Teilgeständnissen von Johannsen sind sich die Behörden sicher, daß mindestens ein Berliner Jugendamtsmitarbeiter für die Zuweisung von Kindern nach Kiel "geldwerte Vorteile" von Johannsen erhalten habe. Der Beamte starb 1995 eines natürlichen Todes. Im Jugendamt ist von Segeltörns, Auslandsreisen und Hotelkosten die Rede.
Im November 1994 wurden die umstrittenen Kinderhäuser geschlossen, die Klienten in anderen Einrichtungen untergebracht. Polizei und Staatsanwaltschaft beschlagnahmten umfangreiches Beweismaterial, das bis heute zu mindestens fünf weiteren Ermittlungsverfahren Anlaß gab. Gegen Johannsen selbst besteht Verdacht wegen Konkursbetrug, Kreditbetrug, Verletzung der Fürsorgepflicht, Anstiftung zur Falschbeurkundung im Amt und Abrechnung überhöhter Pflegesätze. Der Gesamtschaden beträgt nach Angaben der Berliner Jugendämter vermutlich mehrere Millionen Mark.
Johannsen läßt sich vertreten durch den Hamburger Rechtsanwalt Jürgen Rieger. Rieger war Mitglied der inzwischen verbotenen Wiking-Jugend. Vor Johannsen hat Rieger namhafte Rechtsextremisten anwaltlich vertreten, darunter Michael Kühnen.
Rieger-Mandant Johannsen hat sich allerdings aus der Bundesrepublik abgesetzt. Nach Informationen von Interpol lebt er als Immobilienmakler in Palma de Mallorca. Die Staatsanwaltschaften haben einen Suchvermerk im Bundeszentralregister niedergelegt. Sobald Johannsen wieder in der Bundesrepublik auftaucht, wird Anklage erhoben, bleibt er aber auf Mallorca, kann ihm die deutsche Justiz nichts anhaben.
Einen Teil der betroffenen Kinder und Jugendlichen aus dem Johannsen-Imperium übernahm der Kieler Kinder- und Jugendhilfe-Verbund (KJHV), der bis zu 300 Kinder betreut und die derzeit höchsten Zuwachsraten im umkämpften Jugendhilfe-Markt hat. Im letzten Jahr geriet allerdings auch der KJHV wegen einer über 100 000 Mark teuren Abenteuerreise für zwei Mädchen und zwei Sozialarbeiter nach Neuseeland in die Kritik.
Im vergangenen August hatte sich der Sozialausschuß des schleswig-holsteinischen Landtags ergebnislos mit dem Vorwurf befaßt, der KJHV zwinge seine Schützlinge zu Kinderarbeit und bringe sie bei ungeeigneten Pflegeeltern und in verwahrlosten Wohnungen unter. Die Kieler Rechtsanwältin und FDP-Abgeordnete Christel Aschmoneit-Lücke hatte umfangreiches belastendes Material ehemaliger KJHV-Mitarbeiter vorgelegt. Nahmen Roeloffs, einer der Geschäftsführer des KJHV, wies damals alle Vorwürfe zurück.
Unterdessen hat die Staatsanwaltschaft Kiel den Fall übernommen (Aktenzeichen: 566 Js 34881/96). Sie beauftragte die Kriminalpolizei mit Ermittlungen wegen Untreue. Es geht um den Verbleib jenes Differenzbetrags in Höhe von monatlich rund 3000 Mark, der sich daraus ergibt, daß der KJHV pro betreutem Kind und Monat rund 6000 Mark vom Jugendamt erhält, davon aber nur rund 3000 Mark an die Betreuerfamilie weiterleitet.
Andreas Lichts mißlungener Ausflug in die Karibik war mit Gesamtkosten von rund 5000 Mark monatlich im Vergleich dazu günstig kalkuliert. Rund 2000 Mark pro Monat wurden zu Gießelmann in die Dominikanische Republik transferiert. Der geschäftstüchtige deutsche Aussiedler betreute bis zu vier Kinder, was ihm ein zusätzliches Monatseinkommen von rund 8000 Mark bescherte - kein schlechter Betrag in einem Land, in dem der durchschnittliche Monatslohn gerade mal bei umgerechnet 130 Mark liegt.
Unterdessen hat Familie Licht dem Jugendamt und der Polizei Zeugenaussagen aus der Dominikanischen Republik vorgelegt. Darin werden der von Alep eingesetzte Sozialpädagoge und seine einheimische Frau beschuldigt, die deutschen Kinder mit Fäusten und Besenstielen traktiert zu haben. Bei beiden spiele Alkohol eine große Rolle. Gießelmann sei häufig betrunken, wenn er die Kinder schlage. Überliefert ist auch die zynische Antwort des Sozialpädagogen auf den Vorhalt eines anderen deutschen Aussiedlers, die Jugendlichen hätten nicht genug zu essen: "Die fressen nur aus Frust." In dem Schreiben eines deutschen Zeugen heißt es: "Es muß auf jeden Fall verhindert werden, daß weiterhin Jugendliche in die Hände des Scharlatans Gießelmann geraten."
Der Berliner Verein Alep steht weiterhin zu Gießelmann. Dort argumentiert man, daß die an Kartoffeln gewöhnten deutschen Kinder Schwierigkeiten mit der im Gastland üblichen Hauptmahlzeit Reis hatten. Von körperlichen Mißhandlungen sei nichts bekannt. Vorstandsmitglied Jürgen Schiel erklärte, Andreas Licht habe wegen einer Reihe von Diebstählen und wegen der zerrütteten Beziehung zwischen dem Betreuer und dem Jugendlichen zurückgeschickt werden müssen. Er sehe keinen Grund, die beiden Kinder abzuziehen, die jetzt noch bei Gießelmann untergebracht sind.
Andreas Licht sagt, es habe so wenig zu essen gegeben, daß er einmal aus Hunger zwei Eier und ein Paket Kakao entwendet habe. Das zuständige Jugendamt hält zu dem Jungen. "Wir wußten nichts von Diebstählen", so seine Betreuerin Elke Kleinau. "Mit uns ist über seine Rücksendung auch nicht gesprochen worden. Plötzlich war Andreas wieder da." Das Projekt in der Dominikanischen Republik wird vom Jugendamt vorläufig nicht mehr beschickt.
Andreas hat seit seinem Erlebnis in der Karibik Sprachstörungen, Schlafprobleme und Konzentrationsschwächen. Seit Dezember besucht er auf Vermittlung des Jugendamtes einen Förderlehrgang in Mittenwalde südlich von Berlin. Mit Alep will er nichts mehr zu tun haben. "Wir haben denen das Höchste gegeben, was wir hatten", sagt seine Mutter, "unser Vertrauen. Aber das wurde nur mißbraucht."
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