02.05.12

Frankfurter Rundschau › Panorama Erziehungsexperte Jesper Juul Eltern sollen Kindern Luft zum Atmen lassen

Erziehungsexperte Jesper Juul
Eltern sollen Kindern Luft zum Atmen lassen

Der dänische Erziehungsexperte Jesper Juul erklärt verunsicherten Eltern, wie ihre Kinder ticken. Im Interview spricht er über den Schuldkomplex der Eltern und singt ein Loblied auf die Langeweile.

Ruhig mal langweilen lassen, empfiehlt Erziehungsexperte Jesper Juul.
Ruhig mal langweilen lassen, empfiehlt Erziehungsexperte Jesper Juul.
Foto: dapd
Jesper Juuls Bücher sind in Skandinavien und Deutschland Bestseller, obwohl sie keine Geheimrezepte für eine gute Erziehung enthalten. Seinen neusten Ratgeber hat er gemeinsam mit dem Romanautor Peter Hoeg („Fräulein Smillas Gespür für Schnee“) geschrieben. Seine Botschaft ist wie immer simpel: Empathie macht Kinder stark.

Herr Juul, während alle über die Eurokrise reden, propagieren Sie die Empathie als „die härteste Währung der Welt“. Ist das auch als Empfehlung für den Umgang mit Griechenland gemeint?
Jesper Juul
Jesper Juul
Die globalen Krisen haben ihre Ursachen in einer Krise des Miteinander, das in unserer Gesellschaft immer mehr an Stellenwert verliert. Es gibt zwar noch die moralische Forderung: Sei empathisch, habe Mitgefühl, versetze dich in die Lage der anderen. Aber wie wenig diese Fähigkeit tatsächlich ausgeprägt ist, sieht man am Umgang mit den Griechen.

Was hat diese Erkenntnis mit den Kindern zu tun?
Vertrauen in sich selbst zu haben, ist eine Grundvoraussetzung dafür, sich anderen zu öffnen und seelisch gesund zu bleiben. Normalerweise entwickeln Kinder diese Fähigkeit in den ersten fünf bis sieben Jahren: Sie horchen in sich hinein – und richten erst dann wieder die Aufmerksamkeit nach außen. Aber dieses Wechselspiel ist massiv gestört. Stattdessen gibt es immer mehr Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten und Lernproblemen. Wir erleben sie als gestresst, selbstgefällig und nervös. Aber weder die Schulen noch die Therapeuten können das beheben.

Warum nicht?
Kinder erhalten heute zu viele Anregungen von außen. Sie werden schon ab dem Kindergarten mental gesteuert. Das führt dazu, dass sie von diesen äußeren Stimulierungen regelrecht abhängig werden. Wenn sie nach Hause kommen, verlangen sie eine Fortsetzung des Programms – und viele Eltern machen da mit: Fernsehen, Computerspiele, Reitkurs, Ballett, Fußballverein und so weiter und so weiter. Das nimmt kein Ende.
"Gott hat die Langeweile erfunden"

Was soll daran falsch sein, wenn Eltern ihre Kinder fördern?
Sie haben gute Absichten, erweisen ihren Kindern aber einen schlechten Dienst. Die brauchen kein Freizeitprogramm, sondern müssen selbst aktiv werden. Man hilft den Kindern nicht dabei, einen inneren Halt zu entwickeln, wenn man ihnen permanent etwas Neues anbietet.
Dann sagen sie aber: „Mir ist langweilig!“
Das ist das Beste, was ihnen passieren kann. Die Langeweile hat der liebe Gott erfunden! Denn nur wenn Kinder sich langweilen und dabei entspannen, finden sie zu sich selbst.
Warum können sich Erwachsene eigentlich nicht mehr langweilen?
Sie könnten schon. Ich kann zum Beispiel stundenlang Löcher in die Luft gucken. Aber bei den meisten Menschen, gerade bei den Eltern, meldet sich das schlechte Gewissen, sobald sie eine freie Minute haben. Deshalb müssen sie immerzu was tun: Sie putzen, sie schreiben Konzepte, sie produzieren irgendetwas – oder sie erziehen eben ihre Kinder, anstatt einfach mal nichts zu tun oder sich miteinander zu beschäftigen.
Sie haben an skandinavischen Schulen mit Kindern das Stillwerden geübt – unter anderem durch Atemtechniken. Fällt das den Jungen und Mädchen schwer?
Überhaupt nicht. Unser großes Ziel ist es, dass alle Kinder ab der 5. Klasse ein paar Minuten pro Tag mit Übungen verbringen, die sie wieder zu sich selbst bringen. In Dänemark haben wir dafür allerdings viel Kritik bekommen. Die Leute sagten: „Das was ihr anbietet, ist nichts für Kinder!“ Ich fand das interessant, weil dieselben kritischen Lehrerinnen nach der Schule zum Yoga-Kurs rennen, um ihren eigenen Alltag zu bewältigen. Dabei fällt es Kindern sogar viel leichter als Erwachsenen, ruhig zu werden. Aber nur dann, wenn auch ihr Umfeld eine gewisse Gelassenheit ausstrahlt.
"Eltern wollen alles perfekt machen"

Diese Erkenntnis ist nun wirklich nicht neu …
Wir behaupten auch nicht, etwas Neues erfunden zu haben – uns geht es vielmehr um die Wiederentdeckung verschütteter Fähigkeiten. Der Gedanke, dass wir Lebenskompetenz und Lebensfreude üben können, ist unserer Kultur fremd – aber wir haben das bitter nötig.
Eltern kommen zu Ihnen, um Dinge zu lernen, die sie eigentlich schon wissen. Dennoch werden Sie von vielen wie ein Heilsbringer verehrt. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ich als Heilsbringer? Um Himmels Willen! Ich vermute aber, dass Eltern zu mir kommen, weil ich versuche, ihnen das schlechte Gewissen zu nehmen. Vor allem deutsche Eltern plagen sich mit sehr vielen Schuldgefühlen herum. Sie wollen immer alles perfekt machen.
Was sagen Sie den schuldgeplagten Deutschen?
Ihr müsst euren Kindern kein schmerz- und risikofreies Leben bieten. Ihr dürft Fehler machen. Interessiert euch für eure Kinder – aber beschäftigt euch nicht pausenlos mit ihnen. Lasst ihnen Luft zum Atmen, sonst werden sie nicht selbstständig.
Sie selbst sind mit 16 Jahren zur See gefahren. Wie haben Ihre Eltern reagiert?
Meine Mutter hat so reagiert, wie es wohl alle Mütter tun würden: Sie war strikt dagegen. Zum Glück hatte ich einen weisen Onkel, der mir sagte: „Deine Mutter wird nie zur Dir kommen und sagen: ,Jesper, jetzt darfst Du gehen!’ Also hau ab!“
Das Interview führte Katja Irle.

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