Erziehungsexperte Jesper Juul
Eltern sollen Kindern Luft zum Atmen lassen
Ruhig mal langweilen lassen, empfiehlt Erziehungsexperte Jesper Juul.
Foto: dapd
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Jesper Juuls Bücher sind in
Skandinavien und Deutschland Bestseller, obwohl sie keine Geheimrezepte
für eine gute Erziehung enthalten. Seinen neusten Ratgeber hat er
gemeinsam mit dem Romanautor Peter Hoeg („Fräulein Smillas Gespür für
Schnee“) geschrieben. Seine Botschaft ist wie immer simpel: Empathie
macht Kinder stark.
Herr Juul, während alle über
die Eurokrise reden, propagieren Sie die Empathie als „die härteste
Währung der Welt“. Ist das auch als Empfehlung für den Umgang mit
Griechenland gemeint?
Jesper Juul
Die globalen Krisen haben ihre Ursachen in einer Krise des
Miteinander, das in unserer Gesellschaft immer mehr an Stellenwert
verliert. Es gibt zwar noch die moralische Forderung: Sei empathisch,
habe Mitgefühl, versetze dich in die Lage der anderen. Aber wie wenig
diese Fähigkeit tatsächlich ausgeprägt ist, sieht man am Umgang mit den
Griechen.
Was hat diese Erkenntnis mit den Kindern zu tun?
Vertrauen
in sich selbst zu haben, ist eine Grundvoraussetzung dafür, sich
anderen zu öffnen und seelisch gesund zu bleiben. Normalerweise
entwickeln Kinder diese Fähigkeit in den ersten fünf bis sieben Jahren:
Sie horchen in sich hinein – und richten erst dann wieder die
Aufmerksamkeit nach außen. Aber dieses Wechselspiel ist massiv gestört.
Stattdessen gibt es immer mehr Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten
und Lernproblemen. Wir erleben sie als gestresst, selbstgefällig und
nervös. Aber weder die Schulen noch die Therapeuten können das beheben.
Warum nicht?
Kinder
erhalten heute zu viele Anregungen von außen. Sie werden schon ab dem
Kindergarten mental gesteuert. Das führt dazu, dass sie von diesen
äußeren Stimulierungen regelrecht abhängig werden. Wenn sie nach Hause
kommen, verlangen sie eine Fortsetzung des Programms – und viele Eltern
machen da mit: Fernsehen, Computerspiele, Reitkurs, Ballett,
Fußballverein und so weiter und so weiter. Das nimmt kein Ende.
"Gott hat die Langeweile erfunden"
Was soll daran falsch sein, wenn Eltern ihre Kinder fördern?
Sie
haben gute Absichten, erweisen ihren Kindern aber einen schlechten
Dienst. Die brauchen kein Freizeitprogramm, sondern müssen selbst aktiv
werden. Man hilft den Kindern nicht dabei, einen inneren Halt zu
entwickeln, wenn man ihnen permanent etwas Neues anbietet.
Dann sagen sie aber: „Mir ist langweilig!“
Das
ist das Beste, was ihnen passieren kann. Die Langeweile hat der liebe
Gott erfunden! Denn nur wenn Kinder sich langweilen und dabei
entspannen, finden sie zu sich selbst.
Warum können sich Erwachsene eigentlich nicht mehr langweilen?
Sie
könnten schon. Ich kann zum Beispiel stundenlang Löcher in die Luft
gucken. Aber bei den meisten Menschen, gerade bei den Eltern, meldet
sich das schlechte Gewissen, sobald sie eine freie Minute haben. Deshalb
müssen sie immerzu was tun: Sie putzen, sie schreiben Konzepte, sie
produzieren irgendetwas – oder sie erziehen eben ihre Kinder, anstatt
einfach mal nichts zu tun oder sich miteinander zu beschäftigen.
Sie
haben an skandinavischen Schulen mit Kindern das Stillwerden geübt –
unter anderem durch Atemtechniken. Fällt das den Jungen und Mädchen
schwer?
Überhaupt nicht. Unser großes Ziel ist
es, dass alle Kinder ab der 5. Klasse ein paar Minuten pro Tag mit
Übungen verbringen, die sie wieder zu sich selbst bringen. In Dänemark
haben wir dafür allerdings viel Kritik bekommen. Die Leute sagten: „Das
was ihr anbietet, ist nichts für Kinder!“ Ich fand das interessant, weil
dieselben kritischen Lehrerinnen nach der Schule zum Yoga-Kurs rennen,
um ihren eigenen Alltag zu bewältigen. Dabei fällt es Kindern sogar viel
leichter als Erwachsenen, ruhig zu werden. Aber nur dann, wenn auch ihr
Umfeld eine gewisse Gelassenheit ausstrahlt.
"Eltern wollen alles perfekt machen"
Diese Erkenntnis ist nun wirklich nicht neu …
Wir
behaupten auch nicht, etwas Neues erfunden zu haben – uns geht es
vielmehr um die Wiederentdeckung verschütteter Fähigkeiten. Der Gedanke,
dass wir Lebenskompetenz und Lebensfreude üben können, ist unserer
Kultur fremd – aber wir haben das bitter nötig.
Eltern
kommen zu Ihnen, um Dinge zu lernen, die sie eigentlich schon wissen.
Dennoch werden Sie von vielen wie ein Heilsbringer verehrt. Haben Sie
eine Erklärung dafür?
Ich als Heilsbringer? Um
Himmels Willen! Ich vermute aber, dass Eltern zu mir kommen, weil ich
versuche, ihnen das schlechte Gewissen zu nehmen. Vor allem deutsche
Eltern plagen sich mit sehr vielen Schuldgefühlen herum. Sie wollen
immer alles perfekt machen.
Was sagen Sie den schuldgeplagten Deutschen?
Ihr
müsst euren Kindern kein schmerz- und risikofreies Leben bieten. Ihr
dürft Fehler machen. Interessiert euch für eure Kinder – aber
beschäftigt euch nicht pausenlos mit ihnen. Lasst ihnen Luft zum Atmen,
sonst werden sie nicht selbstständig.
Sie selbst sind mit 16 Jahren zur See gefahren. Wie haben Ihre Eltern reagiert?
Meine
Mutter hat so reagiert, wie es wohl alle Mütter tun würden: Sie war
strikt dagegen. Zum Glück hatte ich einen weisen Onkel, der mir sagte:
„Deine Mutter wird nie zur Dir kommen und sagen: ,Jesper, jetzt darfst
Du gehen!’ Also hau ab!“
Das Interview führte Katja Irle.
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