31.03.12

Kinder und Jugendpsychiatrie von der Nazi-Zeit bis heute Erschreckende Kontinuität

Verstaubte Gutachten aus der NS und der Nachkriegszeit in den Aktenschränken des Jugendpsychiatrischen Dienstes im Hamburger Amt für Jugend bildeten den Anlaß für die Psychologin Ruth Baumann, sich eingehender mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie seit 1933 am Beispiel der Hansestadt zu befassen.

Ihr und den Mit Autoren geht es um die Geschichte vom Umgang mit jungen Menschen, die sich dem gesellschaftlichen Normalitätsbegriff entziehen - einer Geschichte von erschreckender Kontinuität.

Diese Geschichte wird vor allem von den immer ausgefeilteren Methoden der Selektion von Kindern und Jugendlichen bestimmt, mit denen eine Entscheidung über „gesund" oder „krank", über „normal" oder „anomal" - während der Nazizeit damit über Leben oder Tod - gefällt wird.

Schon 1604 wurden die Insassen für das Hamburger Waisenhaus selektiert. Aufgenommen wurden nur „ehrliche", eheliche, gesunde, unverkrüppelte Kinder - auch dies bereits unter Umständen eine Entscheidung über Leben und Tod.

1933 erlassene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses bildete die rechtliche Grundlage für die Todesdiagnostik von „Fürsorgezöglingen", die mit der Unfruchtbarmachung begann und mit der Ermordung in den „Fachabteilungen" der Krankenhäuser endete. Diagnostische Grundlage hierfür war die „Einteilung der Zöglinge nach ihrem biologischen Wert" auf einer sechsstufigen Skala mit römischen Ziffern, die von den Hamburger Kinderund Jugendpsychiatern entwickelt wurde und reichsweite Verbreitung fand. Die Ziffern I bis VI hat Ruth Baumann ebenso wie die Diagnose Angaben nach der „Reichs Irrenstatistik" noch bis 1965 auf nahezu jedem Nachkriegsgutachten der Behörde gelesen.
Die Formulare blieben nach dem Krieg zunächst die gleichen, nur daß die Kategorien „Für HJ geeignetnicht geeignet" und „GM XIII" (dem Kürzel für empfohlene Sterilisation) durchgestrichen wurden.


Daß die Kinder- und Jugendpsychiater im „Dritten Reich" nur vor dem Hintergrund breiter Zustimmung in der Gesellschaft handeln konnten, verdeutlicht der Brief eines Vaters aus dem Jahr 1942, der sein geistig zurückgebliebenes Kind aus den Alsterdorfer Anstalten nicht zu sich nach Hause nehmen wollte - womit er es vor dem Tod in der „Kinder Fachabteilung" der „Heil- und Pflegeanstalt" Langenhorn bewahrt hätte:


 „Des weiteren führe ich an, daß ich als Elektromaschinenbauer im Rüstungsbetrieb beschäftigt bin und bei meiner übermäßigen Beanspruchung wohl erwarten darf, von einer gesunden Frau aufgewartet zu werden. Es ist unser Wunsch, bald wieder ein gesundes Kind besitzen zu dürfen. Diese Erwartungen würden zu unserem Leidwesen zunichte gemacht, würde uns das unheilbare Kind zwangsweise wieder zugeführt werden "

Auch die Hamburger Euthanasie Psychiater setzten nach dem Krieg ihre Karrieren fort. Werner Villinger etwa, der im Hamburger Jugendamt von 1926 bis 1934 tätig war und bereits vor 1933 in diversen Veröffentlichungen „eugenische Maßnahmen" propagiert hatte, war beim Entwurf des Sterilisationsgesetzes 1947 maßgeblich beteiligt und sprach sich noch 1961, kurz vor seinem Tod, gegen eine Entschädigung der Sterilisationsopfer aus der NS Zeit vor dem Wiedergutmachungsausschuß des Bundestages aus.






Die unrühmliche Rolle der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist nicht zuletzt auch das Ergebnis berufspolitischer Auseinandersetzungen zwischen Psychiatern und Heilpädagogen, worauf Charlotte Köttgen, die jetzige Leiterin des Hamburger Jugendpsychiatrischen Dienstes, in ihrem Nachwort hinweist: Die Kinderpsychiatrie erlangte durch die Selektionen endlich die Rolle, um die sie sich in den Jahrzehnten zuvor vergeblich bemüht hatte. Und der Kampf der Institutionen, Fachgebiete und Spezialisten um die Kinder wird auch heute noch geführt. So kritisiert Charlotte Köttgen, daß die Folgen sozialpolitischer Probleme noch immer dem einzelnen als persönliches Versagen angelastet werden:

„Wie des Kaisers neue Kleider werden neue Therapiemethoden, Spezialeinrichtungen für Teilleistungsstörungen erfunden, wendet man sich den Erfolgversprechenden zu, läßt jene im Stich, die besonders benachteiligt sind Auch die Hamburger Historikerin Inge Grolle warnt in dem Band vor allzu schneller Entrüstung über Zustände vergangener Zeiten: „Was haben wir wirklich gelernt? Wie steht es mit unseren eigenen Wertbegriffen in bezug auf schwache, gestörte und störende Kinder und Jugendliche?"

Die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie seit 1933 am Beispiel Hamburgs; Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 1994 (Bd. 10 der Reihe „Mabuse Verlag Wissenschaft"); ISBN 3 925499 76 8; 213 S, 42 - DM


ZEIT online

1 Kommentar:

  1. Anonym14:17

    Ich danke für die schonungslose Schilderung der Fatal: Die Kontinuität einiger Mechanismen ist auch heute noch deutlich spürbar. Nur fehlt leider vielen der geschichtliche Hintergrund, das auch erkennen und bewerten zu können. Gerichte haben diverse Möglichkeiten, alles zu legitimieren bzw. in die Länge zu ziehen und hinterher nach sog. "Kontinuitätsprinzipien" zu entscheiden und damit Schicksale zu definieren. Welches unbeschreibliche Leid sie jedoch Familien und Kindern und Jugendlichen zufügen, steht nie zur Debatte. Verhängnisvoll: keiner Überprüfung zu unterliegen bzw. Monopolstellung von beteiligten Verfahrenspflegern und Sachverständigen, die schon vor Verfahrensverhandlugnen die "Ergebnisse" prognostizieren und von sich behaupten, keine Qualifikation für ihre Tätigkeit beim Familiengericht zu benötigen. Das sagt doch alles!Zeugen? Werden gar nicht erst gehört...Kinderäußerungen? Blühende, kindliche Phantasie bzw. alles nur eingeredet...Finanzen, um sich verteidigen zu können bzw. Mißstände zu verdeutlichen? Die werden nachhaltig ruiniert. Selbst DAS hat Methode. Unterlagen? Gutachteninhalte über gesundheitliches Befinden bzw. eklatante Fehleinschätzungen? Werden vorenthalten bzw. gar nicht erst herausgerückt - bis man dann irgendwann mit Verjährung argumentieren kann...Kinderschutz? Eine Mogelpackung sondergleichen! Chancengleichheit? ...ebenfalls. Die nächsthöhere Instanz einschalten? Nein, - es steht schon vorher fest, ob "Erfolgsaussichten "bestehen- alles ist konstruierbar. Rechtsstaat? NEIN! Da fehlt eine Silbe zu Beginn: UN..,
    "armes Deutschland"

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