19.03.12

"Das dressierte Kind" oder "Psychologen und das Geschäft mit der Erziehung"


Eigentlich sind es Erziehungswissenschaftler, welche sich originär mit "Erziehung" theoretisch und wissenschaftlich auseinander setzen.

Psychologen kennen dieses Fachgebiet - dann eher unter "psychologischen" Aspekten und damit leider auch nur in Ausschnitten. Auch wenn die meisten Psychologen sich kaum mit Erziehungswissenschaft, ihren Theorien und Fragestellungen auseinander gesetzt haben, beurteilen Psychologen z.B. in gerichtlichen Begutachtungen, wagemutig, inwiefern eine Person "erziehungsfähig" sei.

Dabei werden auch die eigenen fachlichen Grundsätze außer Acht gelassen und die Begriffe "Erziehungskompetenz" bzw. "Erziehungsfähigkeit" bleiben undefiniert und werden nicht operationalisiert. (siehe: Operationalisierung).

Denn spätestens beim Versuch diese Begrifflichkeiten zu untersuchen, werden wissenschaftlich kompetent tätige Psychologen feststellen, dass sich die Frage nach der Erziehungsfähigkeit mit psychologischen Mitteln nur in einzelnen Ausschnitten und nur beschränkt "erfassen" und "messen" lässt. Nichts desto trotz, werden mit Freude Fragestellungen rund um die vage Vorstellung der Erfassung einer "Erziehungsfähigkeit" in gut bezahlten Gutachten für Familiengerichte aufgenommen, welche sich im Prinzip mit psychologischen Methoden nur unzureichend, wenn überhaupt und mit großen Mängel behaftet, beantworten lassen.

So wird mutig Erziehung auf einige Handlungsprinzipien reduziert und letzendlich willkürlich festgestellt, wie eine "optimale" Erziehung auszusehen hat. Eltern werden für "erziehungsunfähig", für "eingeschränkt erziehungsfähig" oder gar für "erziehungsunfähig" erklärt, mit dem Ergebnis, dass familiengerichtliche Entscheidungen unter pseudowissenschaftlichem Label zustande kommen und in unzulässiger Weise Lebensschicksale produziert werden.
In solchen Gutachten werden auch die eigenen Fachprinzipien, wie Empirie und wissenschaftliche Analyse der zu untersuchenden Variablen, - wohl aus Gründen fehlender theoretischer Reflexionsmöglichkeiten und mangelnder erziehungswissenschaftlicher Kenntnisse - völlig außer Acht gelassen.

Vermutlich geht es ja auch weniger um eine wissenschaftliche Annäherung an die Möglichkeiten und Probleme von Erziehung, es geht auch weniger um die wissenschaftliche Durchdringung der äußerst hohen Komplexität der in der Erziehung stattfindenden Prozesse, sondern es geht aus meiner Sicht um unangemessene Omnipotenzphantasien und die kommerzielle Ausschlachtung von Erziehungsfragen durch selbst ernannte psychologische "Erziehungsexperten" Unter Ausnutzung der Bedürfnisse eines jeden im Erziehungsbereich tätigen und von Natur aus vorhandenen Interesses zu Fragen der Erziehung,wird deren

Suche nach "Rezepten" für erzieherisch angemessenes Handeln...

mit lizensierten! und damit für die Experten "gewinnbringenden" Handlungsmaßnahmen in Kochbuchmanier beantwortet........ Die Rezepte stammen aus dem Methodenrepertoire erfolgreicher Verhaltenstherapie und aus den, der Urgroßmutter - bzw. Großmuttergeneration noch wohlbekannten "Erziehungsprinzipien", welche im Laufe der "Laissez-faire"-Erziehungsideologien in Vergessenheit geraten waren.......Anstatt Kohlekeller gibt es eine "Aus-Zeit" auf dem Stuhl oder im Zimmer.... Wie einst werden Prinzipien schematisch angewendet und die "psychologischen" Wirkungen der Erziehungshandlungen ausgeblendet......

Während sich Erziehungswissenschaftler darüber einig sind, dass sich Erziehung nicht auf ein paar "Rezepte" reduzieren lässt, sehen sich einige - eher weniger kritisch denkende - Psychologen berufen, Erziehung auf verschieden konstruierte "Konzepte, Verhaltensprogramme und Regeln" zu reduzieren....
 



Beispiel:

Mit Triple P (Beschreibung hier:Triple P ) haben Psychologen einen "Geschäftszweig" entwickelt, welcher - ähnlich z.B. der NLP-Ausbildungs- und Trainingsprogramme, Trainer ausbildet und diese Trainer wiederum mit ihren Rezepten Eltern das Geld aus der Tasche zieht.....

Natürlich gibt es in solchen Programmen immer auch Aspekte, welche sinnvolle und stützende Elemente enthalten. So schließe ich mich durchaus der Ansicht von Herrn Prof. Dr. Günther Deegener und Prof. Dr. Klaus Hurrelmann in ihrer kritischen Stellungnahme zum Triple P-Programm an. (Kritische Stellungnahme zum Positive Parenting Program (Triple P) PDF-Datei: "Kritische Stellungnahme zum Triple P" Hurrelmann/Deegener, 2002:
Dabei geht es nicht mehr um die generelle Befürwortung oder Ablehnung von Elternkursen, denn deren Notwendigkeit und vermehrte Angebote werden als unabdingbar angesehen - vielmehr bedarf es der verstärkten Diskussion um die Inhalte, Zielsetzungen und Zielgruppen von Elternkursen sowie damit untrennbar verbunden von Erziehungsinhalten, -zielen und -maßnahmen.
Gleichzeitig verbergen sich dahinter auch Risiken. Denn Erziehung sollte die individuellen Eigenschaften und Bedürfnisse eines Kindes berücksichtigen und auf die Situation in der Familie und das entsprechende Umfeld abgestimmt sein. Diese Vielseitigkeit lässt sich nicht auf einige wenige "Prinzipien" reduzieren:

So werden im Triple P-Programm 5 Prinzipien verfolgt (Zitat Kritik Deegener/Hurrelmann Seite7):
A.) Sorgen Sie für eine sichere und interessante Umgebung
B.) Regen Sie ihr Kind zum Lernen an
C.) Verhalten Sie sich konsequent
D.) Erwarten Sie nicht zuviel
E.) Beachten Sie Ihre eigenen Bedürfnisse

Die Autoren Deegener und Hurrelmann sehen hier zu Recht die Gefahr, dass in den Triple P-Konzepten die Erziehung auf eine " rigide, dressurmäßige, kochbuchhafte Erziehungshaltung hinausläuft" (Zitat S.7). Außerdem weisen die Autoren darauf hin, dass die eng gesetzten Verhaltenserwartungen und -normierungen die Gefahr einer erzieherischen Überforderung (d.h. nicht an das Intelligenzalter des Kindes angepasst) und einer Erziehung zur "Überangepaßtheit" (Unterdrückung des eigenen Willens, Erziehung zum Ja-Sager.....) besteht. So besteht die Gefahr, dass sich die ursprünglich sinnvollen Verhaltenserwartungen im Alltag ins Gegenteil verkehren können.


Äußerst fragwürdig ist z.B. die Feststellung der Triple P-Autoren im Programm ihrer "Kleinen Helferlein" (Zitat Kritik Deegener/Hurrelmann Seite18):
„In der ersten Nacht weint Ihr Kind vielleicht einige Minuten oder sogar Stunden. Es wird sich in den Schlaf weinen. ... Ignorieren Sie Ihr Kind, wenn es ruft oder weint, es erleidet dadurch keinen Schaden.”
Eine derartige Feststellung ist rein subjektiv und weit entfernt von einer wissenschaftlich begründeten Ansicht. Hier werden auch fachkundige Psychologen und Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeuten ihre Einwände haben, denn:
Ob das Kind - wenn es sich stundenlang in den Schlaf weint - keinen Schaden nimmt, kann niemals generell behauptet werden. Je nach individuellem und situativem Empfinden des Kindes kann solches Handeln sehr wohl zu einer ungewollten "Deprivation" und zu Ängsten, ja sogar Traumatisierungen führen, mit entsprechenden Folgeschäden, welche aus der entsprechenden Forschung zu dieser Fragestellung bereits empirisch belegt worden ist.(siehe: www.stangl.eu: Deprivation oder Deprivation und Angst (Arbeitsblältter Stangl-Taller)

An diesem Beispiel zeigen die Autoren Deegener und Hurrelmann die hinter dem Triple P-Programm liegende Problematik auf und kommen zu der Schlussfolgerung (Zitat Seite 25)
Der gesamte Tenor dieses ‘Kleinen Helfers’ geht eher in Richtung auf eine kochbuchhafte Erziehungsanleitung, wobei die einzelnen Schritte extrem penibel, konsequent, rigide und rezeptmäßig eingehalten werden müssen. Durch die Vernachlässigung der psychischen Vorgänge bei Kind und Eltern, der Beziehungsaspekte zwischen ihnen, der situationalen Gegebenheiten, der Erklärungen und Begründungen von Eltern für ihre Erwartungen und Handlungen sowie auch der alters- und reifegemäßen Besonderheiten der Kinder bekommt
dieser ‘Kleine Helfer’ eher einen ausgeprägt dressurmäßigen, roboterhaften Zuschnitt.
In Punkt 3. (Zitat Kritik Deegener/Hurrelmann, Seite 28) untersuchen die Autoren die Erwartungen des Triple P-Programmes:
3. Welche Erwartungen/Normenvorgaben kommen in den ‘Kleinen Helfern’ bezüglich des Verhaltens der Kinder zum Ausdruck?
Probleme sehen die Autoren, wenn die empfohlenen Erziehungsmittel "inflationär" angewendet werden. Über die Notwendigkeit von Grenzen in der Erziehung besteht Einigkeit, allerdings haben wir das Problem, wie, d.h. auf welche Art und Weise Grenzen gesetzt werden. Hier beginnen die Probleme, weil jede erzieherische Handlung auch Reaktionen beim Edukanden (= das Kind, = die Person, welche erzogen werden soll) auslöst und je nach Persönlichkeit und Intelligenz individuell - mit all seinen Konsequenzen - vom Edukanden verarbeitet wird.(siehe dazu auch die Ausführungen der Autoren Deegener/Hurrelmann Seite 36/37)

Zitat Kritik Deegener/Hurrelmann Seite 38:
Auch wenn hier betont werden soll, dass in den ‘Kleinen Helfern’ durchaus auch viele Elemente dieser „dritten Dimension” zu finden sind, so ergibt sich dennoch letztlich, dass Triple-P diese zukunftsorientierte, demokratische und humane Dimension in der Erziehung stark vernachlässigt zugunsten einer Überbetonung auf Anpassung und Gehorsam.
und Zitat Kritik Deegener/Hurrelmann Seite 39:
Die Eltern werden ein- bzw.angewiesen, bei unterschiedlichsten Verhaltensweisen der Kinder (welche sie als problematisch ansehen) nach insgesamt gesehen relativ wenig vorgegebenen
Schablonen (Regeln, Plänen, Zeitabläufen, Belohnungssystemen usw.) sich in mehr oder weniger vorgeschriebener Weise zu verhalten (was auch die Gefahr eines roboterhaften Verhaltens beinhaltet). Ob damit (also ganz überwiegend auf lerntheoretischer Basis) die Eltern wirklich hinreichend erziehungskompetent sind in dem Sinne, dass ihre subjektiven Kontrollüberzeugungen wachsen und sie den Eindruck gewinnen, der unendlichen Zahl von Erziehungssituationen größtenteils hinreichend gewachsen zu sein, wird bezweifelt. Außerdem ist zu fragen, ob es gut ist, den Eltern durch das „Positive Erziehungsprogramm” sozusagen den einzig richtigen Heilsweg aufzuweisen. Eltern, die sich selbst, ihre Erziehungsvorstellungen, ihre Beziehung zum Kind, die Entwicklung von Kindern usw. umfassender verstehen lernen aufgrund breiter angelegter Konzepte, werden sicherlich flexibler in der Erziehung reagieren und eine tragfähigere Beziehung und tiefere Bindung zu ihrem Kind aufbauen und aufrecht halten können - sie werden dabei sicherlich auch auf lerntheoretische, verhaltenstherapeutische Hilfsangebote zurückgreifen, aber eben auch z.B. auf Elemente der Elternseminare von Gordon und der Elternkurse „Starke Eltern - Starke Kinder” des Deutschen Kinderschutzbundes oder der Elternschulung von Penthin oder den Elternbriefen usw. (siehe z.B. auch die 8. Sitzung aus: „Early Childhood Parenting Skills. A
Prgogram Manual for the Mental Health Professionals” von R.R. Abidin - Psychological Assessement Resouces Inc, 1996 - , in der die Eltern diskutieren und lernen, die Schwellen zu einem zu permissivem Erziehungsstil einerseit sowie zu einem zu stark disziplinierendem Erziehungsstil erkennen zu lernen).
Und ein weiterer Problempunkt wird von den Autoren unter die Lupe genommen. Denn es ist die Frage zu stellen, welche Vorstellung hier vom "Kind" als "Erziehungsobjekt" vertreten wird undwelches Erziehungsziel mit dieser Form von Erziehung verfolgt wird. Können wir mit Hilfe einer solchen Erziehung ein Kind "formen" (=> hier stellt sich die Frage, ob diese implizite Vorstellung in Erziehungsprogrammen überhaupt realistisch ist, siehe auch "retroaktive Sozialisation") - Zitat Kritik Deegener/Hurrelmann Seite 40:
Letzteres berührt den Punkt von Ressourcen, Fähigkeiten, Selbsthilfepotentialen,Einsichten, Wissen usw. von Eltern und Kindern. In seiner einseitigen Ausprägung erinnert Triple P in diesem Zusammenhang z.B. etwas an die Einstellung von Pädagogen früherer Jahrhunderte, wonach den Kindern Vernunft abgesprochen wurde und sie somit nicht durch den Appell an den Verstand, sondern alleinig über Zähmung und Zucht erzogen („gebildet”) werden konnten. Verhaltensänderungen aufgrund von Einsichtsfähigkeit und Vernunft, aufgrund eigener Überlegungen und Selbstinstruktionen oder Gesprächen mit Mitmenschen usw. finden im
Rahmen solcher Vorstellungen zu wenig Platz.

Als Erziehungswissenschaftlerin kann ich es kaum fassen, dass der natürliche Prozess der Erziehung und entsprechende Konzepte auch noch mit Lizenzen versehen werden um "Erziehungskonzepte" kommerziell ausgerichteter Vermarktung zugänglich zu machen. Es wird - ähnlich wie in der Pharmaindustrie - behauptet, man habe empirische Belege für seine Wirksamkeit.......Details sind nicht bekannt.......:
In zahlreichen Ländern gibt es mittlerweile Lizenznehmer, die mit Triple P arbeiten dürfen. In Deutschland sind wir das, die PAG Institut für Psychologie AG. Ein Teil unserer Einnahmen wird an den Lizenzgeber, Triple P International Pty Ltd abgeführt.(Zitat aus:Wir über uns - Triple P Deutschland - Urheberrechte und Lizenzen )
Ein großer Aufschrei ging durch unsere Republik, als in Fragen der Sterbehilfe Herr Kusch die Gründung eines kommerziellen "Sterbehilfeunternehmens" (siehe: Wenn der Glaube an Gott das Mitgefühl verdrängt....) ankündigte. Wenn es um Erziehung geht, dann scheint sich die Politik um die Frage der Kommerzialisierung nicht zu scheren.......

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